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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Apfel und beißt hinein. »Mmmh, lecker.«
    Aus Moritz Blick wird sie nicht schlau. Spott? Enttäuschung? Er verfolgt sie mit den Augen, während sie im Zimmer auf und ab geht und dabei die Frucht mit einer Gier verschlingt, die sie selbst entlarvend findet.
    Hinterher sind ihre Hände klebrig, und sie schlüpft ins Bad, um sie zu waschen. Beim Blick in den Spiegel verspürt Noa das Bedürfnis ihren Nasenstecker anzulegen. Ein winziger Brillant, ein Geschenk von Audrey zu ihrem Sechzehnten. Sie hat ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr getragen, seither fristet er ein Schattendasein in ihrem Kulturbeutel.
    »Wollen wir dann?«, fragt sie, als sie ihren Plan in die Tat umgesetzt hat.
    »Und wohin soll es gehen?«
    Als ob sie das wüsste.
    Anstatt sich die Jacke anzuziehen, tritt Noa zurück ans Fenster und dreht Moritz damit den Rücken zu. Erst so, ohne ihn ansehen zu müssen, ist sie in der Lage, ihm von dem Mord an ihren Eltern zu berichten. Von Audreys Stillschweigen. Ihren zahllosen Lügen. Die Worte prallen von der Scheibe ab wie Ohrfeigen.
    In ihrem Rücken füllt sich der Raum mit Moritz’ Unbehagen. Er gibt nicht den kleinsten Laut von sich. Noa hat zwar damit gerechnet, dass es schwierig für ihn sein würde, auf diese Geschichte zu reagieren, aber irgendeine Art von Zuspruch hätte sie sich doch gewünscht.
    Schließlich stellt er sich neben sie und isst nun seinerseits einen Apfel.
    »Die sind wirklich gut«, sagt er.
    Noa antwortet nicht.
    »Ich mag deinen Nasenstecker.«
    Schweigen.
    »Es tut mir leid, was mit deiner Familie passiert ist.«
    Noa nickt und schenkt ihm ein kleines Lächeln.
    »Mir auch«, sagt sie.
    Zuerst gehen sie zur Touristeninformation und lassen sich eine Karte aushändigen, um eine Vorstellung von der Insel zu bekommen. Sie hat in etwa die Gestalt eines Wattwurms: lang und schmal. An ihrer breitesten Stelle misst sie lediglich einen Kilometer, weshalb der Strand stets nur einen Steinwurf entfernt ist, wie die Hochglanzbroschüre verspricht, die Noa lustlos durchblättert. Wobei Steinewerfen sicherlich verboten ist, denn weite Teile der Natur unterliegen strengsten Nationalparkbestimmungen und dürfen entweder gar nicht oder nur mit fachkundiger Führung betreten werden. Soweit Noa es auf die Schnelle überblickt, existieren nur drei Orte, verbunden durch eine einzige Landstraße: Loogdorf im Osten, Billdorf im Westen und in der Mitte Sande selbst mit dem Yachthafen und dem Fähranleger als Verbindung zur Außenwelt.
    »Kann ich sonst noch etwas für euch tun?« Die junge Frau, die sie mit leicht schleppenden Bewegungen bedient hat, setzt ein mitfühlendes Gesicht auf, als Noa nach einer Autowerkstatt fragt.
    »Leider gibt es keine Autowerkstatt auf Sande. Wenn ihr eine Panne habt, müsst ihr euch aufs Festland abschleppen lassen. Das kann ich gern organisieren.«
    Noa geht nicht darauf ein. »Aber es gab mal eine Werkstatt hier«, beharrt sie. »Zufällig weiß ich das genau.«
    »Das kann gut angehen. Aber da das Autofahren hier ohnehin nur eingeschränkt möglich ist, dürfte der Betrieb nicht besonders einträglich gewesen sein. Möglicherweise wurde sie deshalb aufgegeben.«
    »Wissen Sie, wo sie war?«
    »Bedaure.«
    »Sind Sie nicht von hier?«
    Das Mitgefühl ist aus dem Gesicht der Frau verschwunden. »Braucht ihr nun jemanden, der euch abschleppt, oder nicht?«
    Noa verneint.
    »Dann kann ich euch leider nicht weiterhelfen, fürchte ich.«
    Womit sie nicht allein ist. Niemand hilft ihnen weiter. Noas und Moritz’ Rundgang durch die Inselkapitale wird zur Odyssee. Sie sprechen in Kneipen und Restaurants vor. Sie fragen beim Gemüsehöker, in einem Fotostudio, einem Geschäft für Segelzubehör und bei einem Fahrradverleih. Niemand will etwas von einer Werkstatt auf Sande gehört haben. Auch nicht, als Noa erwähnt, es habe dort vor ungefähr vierzehn Jahren einen Mord gegeben. Da es unwahrscheinlich ist, dass es sich bei all diesen Leuten um Neu-Insulaner handelt, müsste spätestens daraufhin der Groschen fallen, denn so ein Verbrechen vergisst sicher niemand, es bleibt über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinde verankert. Es gibt nur eine Erklärung für dieses Verhalten: Man lässt sie absichtlich gegen Mauern rennen. Zu guter Letzt kommt es Noa vor, als würden die Leute bereits die Köpfe schütteln, sobald sie über die Schwelle treten, noch bevor sie den Mund aufmachen. Als wären sie vor ihnen gewarnt worden.
    »Was ich nicht verstehe«,

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