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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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besonders gewesen. Trotzdem scheint außer dir jeder hier sie vergessen zu haben.«
    Der Buchhändler macht eine wegwerfende Handbewegung. »Unsinn. Natürlich wissen alle Bescheid. Ich nehme an, du kennst die traurige Geschichte?«
    »Nur in groben Zügen. Unter anderem deswegen bin ich hierhergekommen.«
    »Verstehe. Du darfst den Leuten ihr abweisendes Verhalten nicht zu übel nehmen. Wir leben hier vom Tourismus, und ein Mordfall passt so gar nicht ins Klischee, das wir den Gästen vermitteln wollen – so simpel ist das leider. Da der mutmaßliche Mörder deiner Eltern sich in der Untersuchungshaft das Leben genommen hat, gab es nie einen aufsehenerregenden Prozess. So verschwand der Fall recht schnell aus den Medien, was aus Sicht der hiesigen Geschäftsleute – und wir sind hier alle mehr oder weniger Geschäftsleute – natürlich ein Segen war. Ich weiß, das klingt hart, aber es ist eine Frage des Überlebens. Man muss immer nach vorn schauen.«
    Muss man das? Wirklich immer? Für Noa klingt es wie eine Ausrede, eine Art von Bequemlichkeit. Sie stellt sich vor: eine Gewalttat in ihrer Nachbarschaft in der Hafencity. Würde sie sich anschließend dort noch genauso geborgen fühlen? Nur wenn es ihr gelänge, das Geschehen zu verdrängen.
    Für die befragten Einwohner von Sande ging es um mehr als um den guten Ruf ihrer Insel als Ferienregion. Die abgeschiedene Idylle, in der sie zu Hause sind, ist nicht nur Währung, sondern auch Lebensentwurf. Alles, was stört, hat da keinen Platz. Ein Stück weit hat Noa dafür sogar Verständnis. Dennoch: Sie ist gekommen, um zu stören. Etwas anderes bleibt ihr gar nicht übrig.
    »Der mutmaßliche Mörder?«, hakt sie nach.
    »So lautet die offizielle Sprachregelung. Aber an seiner Schuld besteht kein Zweifel. Alle waren überzeugt, dass die Polizei den Richtigen verhaftet hatte. Er war Geselle im Betrieb deines Vaters. Er soll geständig gewesen sein.«
    »So stand es in der Zeitung«, bestätigt Noa. »Kanntest du den Täter?«
    »Nur vom Sehen. Er war nicht sehr lange dort beschäftigt.«
    »Jemand vom Festland?«
    »Genau. Es hieß damals, er sei unter Vorspiegelung falscher Tatsachen an den Job bei deinem Vater gekommen, die Rede war von einem gefälschten Gesellenbrief. Deswegen sollte er gehen – und hat die Kontrolle über sich verloren.«
    »Aber warum hat er dann auch meine Mutter umgebracht?«
    »Wahrscheinlich kam sie ihm einfach in die Quere.«
    Ohne es zu wollen, springt Noa auf. »Und warum ich nicht?« Sie schlägt mit der Faust auf ihre Brust. »Warum kam ich ihm nicht in die Quere?«
    »Du warst den ganzen Tag im Kindergarten. Du hast einfach Glück gehabt«, sagt Sören Westerburg leise, worauf Noa noch lauter die Stimme erhebt. »Das nennst du Glück? Du siehst doch, was ich hier mache, wildfremde Leute anbetteln, mir die Wahrheit über meine Eltern zu erzählen, um herauszufinden, wer ich bin. Das soll Glück sein? Weißt du eigentlich, was aus Audrey geworden ist?«
    »Eine sehr erfolgreiche Thrillerautorin.«
    »Ja, warum wohl? Warum, glaubst du, schreibt sie diese blutrünstigen Storys und keine Liebesromane oder Romane über das Leben an sich? Bei ihr geht es nicht ums Leben, sondern immer nur ums Sterben. Und das Verrückte ist: Bis gestern hatte ich keinen blassen Schimmer, warum das so ist. Ich dachte, meine Eltern hätten einen Unfall gehabt. Ich weiß nicht, wie sie aussahen, wie sie waren. Nicht mal Fotos haben wir wegen dieses blöden Feuers. Audrey hat mir nichts über meine Familie erzählt. Nichts! Weil sie nach dem ganzen Mist von vorn bis hinten verkorkst ist. Und ich auch.«
    Moritz fasst sie am Ärmel. »Es ist gut, Noa«, sagt er, und sie weiß, dass er Recht hat. Sie muss sich beruhigen. Ihre Vorwürfe mögen berechtigt sein, aber sie richten sich gegen den Falschen. Ihren Gastgeber trifft keine Schuld, im Gegenteil, er hat sich ihrer angenommen, auch wenn er ihr bislang nichts Neues erzählt hat. Eine Entschuldigung murmelnd setzt sie sich wieder hin.
    Sören Westerburg nickt ihr zu. In aller Ruhe räumt er den Tisch ab, beseitigt die Krümel und die Fettspuren von der Makrele mit einem feuchten Lappen, den er anschließend minutenlang unter fließendem Wasser abspült. Danach verlässt er den Raum, wieder vergehen etliche Minuten, bis er mit einem MacBook Pro neuester Generation zurückkehrt.
    »Ich zeig’ dir deine Eltern, Noa«, verspricht er.
    Während das Gerät hochfährt und der Buchhändler einen Fotoordner nach dem

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