Falsche Nähe
erregt, ihre Mühe mit dem schweren Gestell, dessen Rädchen nicht so wollen wie sie. Sie flucht. Noa beeilt sich die Tür aufzuhalten, während Moritz der auffallend blassen Dame hilft. Ihrerseits kein Dankeschön.
»Wir schließen jetzt«, sagt sie.
»Ich habe nur eine kurze Frage.«
»Die Antwort lautet Nein.«
Noa legt den Kopf schief.
»Nein, ich weiß nichts von einer Autowerkstatt. Ich weiß, dass ihr überall nachfragt, aber die Mühe könnt ihr euch sparen. Hier weiß keiner was. Wenn ihr eine Panne habt –«
Noa unterbricht sie. »Wir haben keine verdammte Panne, unser Wagen ist bestens in Schuss. Wir wollen bloß mit jemandem reden, der sich an die Werkstatt erinnert, beziehungsweise an die Familie, die dort gelebt hat.«
Anstatt zu antworten, macht die Frau sich an der Kasse zu schaffen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie sie hinauswirft. Noa zermartert sich den Kopf nach einer Möglichkeit, doch noch ins Gespräch zu kommen, und lässt den Blick durch den Raum wandern: Regale so hoch, dass man eine Leiter bräuchte, um an die Bücher ganz oben zu gelangen. Hinter dem Tresen, von Noas Standpunkt aus nur zu einem Stück zu sehen, steht ein roter Koffer. Sie tritt einen Schritt nach vorn. Kunstleder, zerschlissen.
»Wenn ihr nichts kaufen wollt, müsst ihr jetzt gehen«, sagt die Buchhändlerin.
»Wem gehört dieser Koffer?«, fragt Noa.
»Meinem Mann. Wieso?«
»Ich möchte ihn sprechen. Bitte. Wir haben uns heute im Zug kennengelernt.«
Zu ihrer Verblüffung hat ihr Flehen Erfolg. Wenig später lädt der Mann aus dem Zug sie beide zu einem Tee ein. Dafür muss Noa ihn nicht mal an sein Versprechen erinnern, sich bei ihr für die Hilfe beim Aufsammeln seiner Bücher zu revanchieren. Ohne das diskrete Kopfschütteln seiner Frau zu beachten, führt er sie durch einen Flur, an dessen Seiten sich antiquarische Wälzer und Zeitschriften stapeln, eine schmale Treppe hinauf in seine Wohnung. Überall riecht es nach Staub und altem Papier. An den Wänden: Blümchentapeten. Weil sie gestern und heute den ganzen Tag herumgelaufen ist, tun Noa die Beine weh, und sie ist erleichtert, als sie sich in einer altmodischen Küche auf einen Stuhl sinken lassen kann.
»Habt ihr zwei auch Hunger?«
Sie nicken unisono.
»Fisch? Brot?«
Erneutes Nicken.
Der Mann deckt den Tisch für drei. Seine Frau würde ihnen wohl keine Gesellschaft leisten, bemerkt er trocken.
Noa will bereits zu einer ersten Frage ansetzen, doch die Bedachtsamkeit, mit der der Buchhändler jeden Handgriff verrichtet, hält sie davon ab. Ihr Instinkt rät ihr, sich seinem Tempo zu unterwerfen. Mit Hektik vermag dieser Mann offenkundig nicht viel anzufangen, das Malheur im Zug hat es gezeigt. Irgendetwas sagt ihr, dass sie sich entspannt zurücklehnen kann. Der Buchhändler wird sie nicht zurückweisen, sie kann mit ehrlichen Antworten rechnen. Wenn es so weit ist. Zuerst wird gegessen. In freudiger Erwartung hat ihr Magen bereits zu knurren begonnen.
Es gibt geräucherte Makrele auf Roggenbrot und – zu Noas Freude – grünen Tee, statt des üblichen tiefschwarzen Gebräus, das als friesisches Nationalgetränk gilt.
»Mögen Sie auch Sushi?«, entfährt es ihr.
»Oh ja, sehr gern.«
Schnell entspinnt sich ein Gespräch über die japanische Spezialität. Noa muss insgeheim zugeben, dass ihre Menschenkenntnis zu wünschen übrig lässt, denn ihr Gastgeber, den sie im Zug für einen bettelarmen Bauern gehalten hat, erweist sich als Weltenbummler mit einer Vorliebe für Asien. Je länger sie den Mann betrachtet und seinen Erzählungen lauscht, desto weniger hässlich findet sie ihn. Seine Adlernase: markant. Die dickfleischige Narbe: eine angemessene Trophäe für einen Abenteurer wie ihn.
Die Makrelenbrote sind vorzüglich, ebenso der Tee. Nach dem dritten Nachschenken prostet der Buchhändler ihnen unvermittelt mit der Tasse zu. »Sören Westerburg«, stellt er sich vor.
»Moritz Grothe.«
»Noa Winter.«
Sie trinken und sind per Du. Kurz darauf, ohne Vorwarnung, kommt der Buchhändler zum Punkt: »Du bist Johannas Tochter, nicht wahr? Ich hätte es mir denken können. Die Ähnlichkeit – frappierend.«
Noas Herz macht einen Sprung. »Sie, äh, du erinnerst dich an meine Mutter?«
»Na, klar. Auch an deinen Vater. Du siehst beiden ähnlich, um genau zu sein. Du hast die Agilität deines Vaters und die Schönheit deiner Mutter geerbt, so wie ich das sehe.«
Noa lächelt wehmütig. »Klingt, als wären sie irgendwie
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