Falsche Nähe
dort mit Sicherheit seit Jahrzehnten nichts verändert wurde.
Schließlich stehen sie wieder draußen an Deck, wo das Grau wie durch Zauberhand fadenscheinig geworden ist, mittendrin ein mattgelber Fleck: die Sonne will die Wolken durchbrechen. Schaumkronen auf der See, die in w echselnden Gewändern, mal schlammfarben, mal grü nlich, das Schiff umspielt, am Bug ein Schleier aus weißer Gischt. Land in Sicht. Die Frisia hält im Zickzackkurs darauf zu. Noas erster Eindruck: Rote Ziegeldächer statt Reet. Das überrascht sie, wohingegen die Dünenlandschaft ihren Erwartungen entspricht. Wie auf Sylt oder Amrum. Wie Jütland in Dänemark. Nur wenig Markantes. Ein imposantes Bauwerk in Weiß mit Glaskuppel sticht ins Auge. Weiter rechts ein runder Backsteinturm. Ein ziemlich kleiner Leuchtturm. Und eine Stahlkonstruktion in Form eines Segels: eine Miniaturausgabe des Borj el Arab in Dubai. Noas Blick scannt Gebäude um Gebäude ab, sie gibt sich alle Mühe, doch es macht nicht Klick.
Sobald sie die Fähre verlassen haben, lotst das Navigationssystem sie vorbei an Fußgängern, Radfahrern und Pferdekutschen eine belebte Straße entlang. Zu Noas Verblüffung halten sie nach etwa fünfminütiger Fahrt vor dem weißen Kuppelbau. Strandhotel Kurhaus Sande steht über dem Portal. Kurpalast wäre passender. Ein derartig repräsentatives Gebäude hätte sie auf einer so abgelegenen Insel niemals erwartet.
»Du, das sieht sauteuer aus«, sagt sie, denn auf ihrem Konto befinden sich nur noch rund dreihundert Euro. Das könnte knapp werden.
Moritz zückt seine Brieftasche erneut, nestelt die fünf gelben Hunderter hervor, die Noa bereits bemerkt hat, und überreicht sie ihr. »Mit besten Grüßen von Audrey. Du kannst frei verfügen. Ich dachte, wir lassen sie ihr schlechtes Gewissen etwas kosten. Dein Einverständnis vorausgesetzt, habe ich uns vorhin vom Auto aus zwei Zimmer reserviert. Soll das erste Haus am Platz sein.«
»Damit kommen wir hier aber nicht weit.«
»Egal, ich habe auch noch etwas Kohle auf dem Konto, meine Karte ist gedeckt. Ach, komm schon, Noa. Ich weiß, du bist nicht zum Spaß hier, aber das heißt doch nicht, dass wir es uns zwischendurch nicht gut gehen lassen können.«
Noa gibt sich geschlagen. Ihr gefällt seine Sorglosigkeit, sie bildet einen Gegenpol zu ihrer eigenen Gemütsverfassung.
Es sich gut gehen lassen bedeutet im Kurhaushotel unter anderem: Zimmer mit Panoramablick und Balkon zum Meer. Ohne die Ausstattung zu beachten, wirft Noa ihren Rucksack aufs Bett, öffnet Gardine und Balkontür und tritt hinaus.
Dünen, ein breiter Strand, hohe Brandung. Zum Baden ist es zu kalt, kein Rettungsschwimmer im Dienst, aber es sind viele Spaziergänger unterwegs. Wie an der Ostsee gibt es Strandkörbe, aber längst nicht so viele, sie beherrschen nicht das Ambiente, sondern vervollkommnen es, fröhlich bunte Farbtupfer im feuchten Sand, in dem sie als Kleinkind womöglich, nein, ganz bestimmt nach Herzenslust gebuddelt und Burgen gebaut hat. War sie eine glückliche Dreijährige?
Rechts unter ihr das Portal. Noa beobachtet, wie eine Möwe sich vom Wind in die Höhe tragen lässt, um gleich darauf abzutauchen und mit einem Schrei auf der Freitreppe zu landen, wo sie alsbald vom Portier vertrieben wird.
Bevor sie sich zu sehr in ihren Gedanken verlieren kann, klopft Moritz an der Tür. Dankbar lässt sie ihn herein .
»Und, was sagst du zum Zimmer?«, fragt er.
»Nett.«
Er schmunzelt. »Du bist wahrscheinlich noch Besseres gewöhnt.«
»Quatsch. Das ist schon alles ziemlich mondän hier«, sagt Noa, wobei sie das in weiß, beige und blau gehaltene Mobiliar erst jetzt bewusst zur Kenntnis nimmt. Für den Korb mit frischem Obst, den das Personal für sie bereitgestellt hat, gibt es auf jeden Fall Pluspunkte, ebenso für den Topf mit frischem Heidekraut. Noa verabscheut künstliche Blumen.
»Und bei dir nebenan?«, fragt sie.
»Sieht’s exakt genauso aus.«
Plötzlich stehen sie einander gegenüber. Noa sieht die Wölbung seiner Lippen, die Unterlippe vom kalten Wind und vom Draufherumkauen rissig. Sie weiß, dass er schöne Zähne hat, gerade und weiß, die Eckzähne markant. Ihr Herz schlägt schnell, als wäre sie eine Treppe hinaufgestiegen oder stundenlang gerannt. Sie will ihn küssen, so einfach ist das – und so schwierig zugleich. Sobald Noa ihre Gefühle durchschaut, wendet sie sich mit einer abrupten Bewegung von ihm ab.
»Ich habe Hunger«, verkündet sie, greift sich einen
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