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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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das muss Noa ihm zugestehen. Als sein Handy klingelt – der Ton geradezu museal wie bei einem Gameboy erster Generation –, führt er ein Fachgespräch über kalbende Kühe.
    Noa wirft einen Blick auf ihr iPhone. Audrey hat ihr eine SMS geschrieben, die dritte, seit Noa sie am Morgen, ebenfalls via Kurznachricht, wissen ließ, dass sie sich auf dem Weg nach Sande befindet:
    Noa, bitte komm nach Hause. Wir müssen reden.
    Noa tippt die Antwort, so schnell ihre Finger und der Touchscreen es zulassen, Rachsucht im Blut:
    Das hättest du dir früher überlegen müssen. Jetzt rede ich erst mit anderen. Am Tatort.
    Sekunden später ruft Audrey an. Als Noa das Gespräch ablehnt, trifft eine weitere Nachricht ein:
    Dann komme ich eben dorthin. Ich habe große Angst um dich.
    WAG ES NICHT! Lass mich einfach nur in Ruhe. Ich kann auf mich selbst aufpassen.
    Noa schaltet das Handy ab. Audrey wird sich hüten, sie kennt ihre Schwester. Die mit ihrer Inselphobie. Wenigstens dieses Geheimnis kann nun getrost als gelüftet betrachtet werden. Apropos Luft: Bemerkt denn niemand außer ihr den Mangel an Sauerstoff? Wohl nicht. Als sie ein Fenster öffnet, erntet Noa von allen Seiten Protest.
    Die Lethargie der Landschaft schlägt Noa in ihren Bann, bis es im Lautsprecher knackt. Nächster Halt Mole Norderende. Endstation. Die Ansage weckt ihre Lebensgeister. So weit hat sie es geschafft, jede Schwelle, die unter den Rädern rumpelt, ein winziger Schubs nach vorn – oder besser: zurück.
    Plötzlich hält es niemanden mehr auf seinem Platz, alle machen sich gleichzeitig an ihrem Gepäck zu schaffen, ziehen Jacken und Mäntel an, ungeachtet der Gefahr, dem jeweiligen Nachbarn dabei den Ellenbogen in die Seite zu rammen. Der rote Koffer ihres Sitznachbarn springt auf und der Inhalt purzelt zu Boden: lauter antiquarische Bücher. Noa hilft ihm beim Aufsammeln. Er werde sich beizeiten revanchieren, sagt der Mann. Wirklich ein komischer Kauz.
    Am Meer. Die Nordsee brodelt, man hört sie, fühlt ihre Energie, aber zu sehen ist nichts außer ein wenig braunes Wasser im Hafenbecken – wegen des Nebels. Auf der Mole wimmelt es von Menschen. Den Schildern zufolge werden von diesem Hafen aus mehrere Inseln angelaufen, offenbar alle gleichzeitig, denn es haben gleich drei Fähren hintereinander festgemacht. Noa hat noch kein Ticket für die Überfahrt. In der hoffnungslos rückständigen Schalterhalle, hinter den beschlagenen Fenstern ein Klima wie im Dschungel, ist das Gewusel noch größer. Es herrscht das Recht des Stärkeren. Die Gespräche ringsum liefern eine logische Begründung für den Ansturm: In Nordrhein-Westfalen sind gerade die Herbstferien im Gange, was Noa daran erinnert, dass nächste Woche Hamburg an der Reihe ist. Eine gute Nachricht. Wenigstens wird sie in der Schule nicht zu viel Unterricht versäumen.
    Als sie es ins Freie geschafft hat, froh und ein bisschen überrascht, tatsächlich eine Fahrkarte ergattert zu haben, muss Noa feststellen, dass die Atembeklemmung, die sie sowohl in der Bahn als auch in der Halle belästigt hat, nicht mit dem tatsächlichen Sauerstoffgehalt der Atemluft zusammenhängt, denn hier draußen wird es nicht besser. Eine große, unsichtbare Hand hält ihren Brustkorb fest umklammert, eine kalte Hand, Finger aus Stahl. Angst, wie sie begreift. Angst vor allem, was sie da draußen auf dem unsichtbaren Meer erwartet.
    Schon halb auf der Gangway schaut Noa zurück und bemerkt in der Warteschlange für Fahrzeuge den schwarzen BMW : ein X5 wie der von Audrey. Sie muss sich anstrengen, um das Kennzeichen zu entziffern. Hamburger Zulassung. Es ist Audreys Wagen.
    Inmitten der vorwärtswogenden Menschenmassen wechselt Noa die Richtung.
    »Was zum Teufel …« Sie reißt die Autotür auf und steckt den Kopf hindurch.
    »Hi. Auch hier?«
    Diese Begrüßung kennt sie. Noa merkt, wie ihre Gesichtszüge entgleisen. Nicht ihre Schwester sitzt hinterm Steuer – es ist Moritz. Sie weiß nicht, ob sie sich freuen soll oder erst recht ausrasten.
    »Steig einfach ein und mach die Tür zu. Es wird kalt«, sagt Arnes Sohn freundlich.
    Noa lässt sich auf den Sitz fallen. »Was machst du denn hier?«
    »Rumstehen. Warten.«
    »Und worauf?«
    »Dass es da vorn endlich weitergeht.«
    Noa ringt immer noch um Fassung. »Ich meinte, was machst du hier in Audreys Wagen? Hast du überhaupt einen Führerschein?«
    »Hab ich.« Er fingert seine Brieftasche aus der Gesäßtasche. »Sieh nach, wenn du mir nicht glaubst.«
    Ohne

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