Falsche Nähe
sagt Moritz, als sie in einem zeltartigen Pavillon mit Blick auf den Nordseestrand einen Imbiss zu sich nehmen, »die ganzen Informationen, um die es dir geht, könntest du doch ganz leicht von Audrey einfordern. Jetzt, wo ohnehin das Schlimmste schon raus ist, wird sie dir die Aussprache bestimmt nicht mehr verweigern. Das kann sie gar nicht. Ich habe Audrey heute früh gesehen, Noa, glaub mir, die ist völlig am Boden zerstört. Frag sie, was du wissen willst, und du kriegst sämtliche Antworten auf dem Silbertablett serviert, ohne dich mit diesen Hinterwäldlern absabbeln zu müssen.«
»Nie im Leben.«
Moritz stochert in seiner maschinell vorgeschnittenen Currywurst.
»Wenn meine Schwester mich so viele Jahre lang belogen hat, warum sollte sie dann ausgerechnet jetzt anfangen, die Wahrheit zu sagen? Weißt du, was ich glaube? Sie wird immer nur das eingestehen, was ich sowieso schon weiß, wie ein Politiker. Wenn ich sie frage, ob unsere Eltern gelitten haben, wird sie mir immer noch erzählen, nein, meine Süße, das ging alles ganz schnell. Sie haben überhaupt nichts gemerkt. Nur damit ich beruhigt bin. Dabei sind sie elendig krepiert. Wahrscheinlich sind sie ganz langsam verblutet, haben stundenlang um Hilfe geschrien und niemand kam. Weiß ich’s? Und wo war ich, als all das passierte?«
Moritz schiebt die Currywurst beiseite, einen angewiderten Zug um den Mund. Er starrt sie an, als wäre sie wahnsinnig. »Warum ist es so wichtig, jedes Detail zu kennen? Die Sache ist doch so schon schrecklich genug.«
»Weil es meine Eltern waren, verstehst du das nicht?«
Er schüttelt den Kopf.
»Ihre Geschichte ist auch meine, so ist das nun mal. Audrey hat es vielleicht gut gemeint, alles mit sich allein ausmachen zu wollen, aber so funktioniert das nicht. Wir hängen da beide mit drin. Ich will wissen, wer sie waren. Wie sie lebten. Wie sie starben. Und ich will wissen, wo sie begraben sind.«
»Das verstehe ich«, sagt Moritz ernst.
Draußen hat die Sonne ihren Kampf gegen die Wolken verloren. Die Kellnerin macht mit einem Tablett die Runde und verteilt gläserne Kerzenhalter mit Teelichtern auf den Bistrotischen.
»Ein bisschen was für die Romantik«, sagt sie mit einem Augenzwinkern, als sie ihre Kerze entzündet.
Moritz bedankt sich. Sie lassen die Teller abräumen, trinken Cola. Sie haben beide fast nichts gegessen.
»Ich werde dir helfen, so gut ich kann », verspricht Moritz. Er strahlt eine Mischung aus Kraft und Neugier aus.
»Danke.«
Vorsichtig legt Moritz seine Hand auf ihre. Seine Wärme durchzuckt Noa wie ein Stromstoß. Sie hält sich aufrecht, blickt in seine lebhaften Augen und ist mehr als nur getröstet, sie fühlt sich wie bei einer ersten Verabredung. Genau genommen ist es ihre erste Verabredung. Oder so etwas Ähnliches.
Der Wind zerrt an den Wänden des Pavillons, die voll aufgedrehten Heizpilze verbreiten wohlige Gemütlichkeit. Noa wird schläfrig. Das Flackern des Kerzenlichts. Das Rauschen des Meeres die vollkommene Untermalung für ihre Zweisamkeit. Sie sieht, wie Moritz ihr Gesicht betrachtet, und ist froh über den Brillantstecker in ihrem Nasenflügel. Sonst trägt sie keinen Schmuck.
Bei aller Schwärmerei ermahnt Noa sich, wachsam zu bleiben. Moritz wird ihr zur Seite stehen und das ist gut. Doch es bedeutet nicht, dass sie ihm hundertprozentig vertrauen kann, es gibt Dinge, die sie aus reiner Vorsicht für sich behalten wird, bis sie ihn besser kennt. So weiß er – wenigstens von ihr – nichts über Audreys Romananfang, ohne den Noa die gültige Version der Familientragödie nie infrage gestellt hätte. Ein absolutes Tabuthema ist der Mord an der Blumenverkäuferin. Unweigerlich fällt Noa beim Gedanken an sie auch das blutige Schwert wieder ein. Konsequenterweise müsste sie Moritz deswegen noch kritischer sehen, als sie es ohnehin schon tut, aber weil sie ihn mag und seinen Vater verabscheut, hält sie der Einfachheit halber Arne für die zwielichtige Figur. Wie und ob all das überhaupt miteinander zusammenhängt, liegt jedoch völlig im Dunkeln. Fakt ist: Das Wissen um die vielen unausgesprochenen Einzelheiten lastet schwer auf ihrem Herzen.
Die Buchhandlung ist ihre letzte Option. Ein unscheinbares Geschäft in einer Seitenstraße, leicht zu übersehen. Inzwischen ist es dunkel geworden und eine groß gewachsene Frau ist gerade damit beschäftigt, einen Ständer mit Taschenbüchern von draußen nach drinnen zu befördern. Sie ist es, die ihre Aufmerksamkeit
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