Falsche Nähe
anderen anklickt und wieder verwirft, ist sie nicht sehr weit davon entfernt, vor Aufregung und Ungeduld in Ohnmacht zu fallen.
»Da!« Er dreht den Computer in ihre Richtung, damit sie besser sehen kann. »Da sind sie. Auf der Siebenhundertjahrfeier hier in Sande. Bei euch in der Straße. Also in der Straße, in der ihr damals gewohnt habt. Und das Baby da auf dem Arm deiner Mutter, das bist du.«
Noa betrachtet die Szenerie. Ein Straßenfest. Blauer Himmel. Es muss ein windiger Tag gewesen sein, denn alle im Bild haben verwuschelte Haare. Ihr Vater ist groß und blond wie ein Seemann, ihre Mutter dunkel mit Gretchenfrisur: die Haare zur Seite gescheitelt und oben auf dem Kopf kunstvoll eingeflochten. Wie jung sie war. Noa findet, sie hat mehr Ähnlichkeit mit Audrey als mit ihr. Am liebsten würde sie in das Foto hineinkriechen, die Hände der Frau auf der Haut fühlen, die so ruhig dasteht und sie so liebevoll in den Armen wiegt, wie man ein Baby nur wiegen kann, wiegen muss, den lächelnden Blick ganz auf sie konzentriert. Hat sie zurückgelächelt?
»Kann ich noch mehr Fotos sehen?«, fleht sie. Ihre Stimme klingt brüchig.
»Lass mich nachsehen.«
Die Ausbeute ist mager. Zwei Aufnahmen. Auf einer liegt Schnee, ihre Eltern stehen zusammen mit anderen Leuten an einem Glühweinstand, dick eingemummelt, sodass man fast nichts von ihnen erkennt. Das andere muss vor der Werkstatt entstanden sein, denn Noas Vater, diesmal nur im T-Shirt, betrachtet mit fachmännischem Gehabe einen ziemlich demolierten Motorroller.
»Meine Vespa, das gute Stück«, sagt Sören bedauernd. »Ich musste einer Kutsche ausweichen und bin im Graben gelandet.«
»War das unser Haus?« Noa mustert den zweigeschossigen Rotklinkerbau eingehend.
Der Buchhändler nickt.
»Ein Jammer, dass alles verbrannt ist«, sagt Moritz. »Das war ein schönes Haus.«
Eine unbehagliche Pause entsteht. Der Buchhändler kratzt sich im Nacken.
»Was ist los.«
»Ich weiß ja nicht, was deine Schwester dir noch alles erzählt hat, aber euer Haus ist damals nicht verbrannt. Es steht.«
Noa ruft sich die Story ihrer Schwester in Erinnerung: Nach dem Unfall seien sie zunächst bei Freunden untergekommen, nur wenige Tage später habe sich in dem leer stehenden Haus ein Kurzschluss ereignet, worauf es mit all ihren Sachen verbrannt sein soll. Erst jetzt erkennt sie in der Geschichte die ungelenken Lügen eines Teenagers, der sich in den Kopf gesetzt hat, die kleine Schwester vom Ballast sämtlicher Erinnerungen zu befreien. Vielleicht sieht sie Audrey auch immer noch zu idealistisch, vielleicht wollte sie auch bloß selbst nicht mit den Bildern der Vergangenheit konfrontiert werden und nahm damit in Kauf, dass ihre Schwester nicht selbst entscheiden konnte.
»Aber was ist dann mit unseren ganzen Sachen geschehen, Fotos, Dokumenten, Erinnerungsstücken?«, fragt sie. »Wenn sie nicht zerstört wurden.«
»Das musst du deine Schwester fragen.«
»Kannst du mir die Fotos als Mail schicken?«
»Natürlich.«
Sie wissen nicht, was reden. Sören macht den Eindruck, als wäre er erschöpft, zu lange können sie ihn nicht mehr belästigen. Schließlich teilt er von sich aus noch etwas mit. Etwas Wichtiges.
»Dein ursprünglicher Name war nicht Winter, Winter war der Mädchenname deiner Mutter. Dein Vater hieß Petersen, Winfried Petersen. Und soweit ich weiß, ist Noa nur dein zweiter Name, deine Eltern riefen dich Maike. Und Audreys erster Name lautete Anna. Dass ihr beide einen Zweitnamen habt, hielten damals alle für ziemlich spinnert, vor allem der Pastor. Aber deine Mutter hat darauf bestanden.«
Maike Noa Petersen. Der Name, ihr eigener Name, detoniert in Noas Kopf.
Noa schafft es, sich bei Sören Westerburg zu bedanken und eine Verabredung für den nächsten Morgen zu treffen – er soll sie auf den Friedhof begleiten, um ihr das Grab der Eltern zu zeigen –, ohne dass die Wolke aus Sorge und Wut, die sie umgibt, sich entlädt. Es gelingt ihr sogar, Moritz immer an ihrer Seite, wie ein ganz normaler Feriengast die Hauptpromenade des kleinen Ortes entlangzugehen, lediglich ihr Schritt ist ein wenig schneller als der aller anderen, kein Schlendergang, und sie tritt fester auf, doch sie behält die Kontrolle über sich. Noch.
Eine Kutsche überholt sie, eine Abendgesellschaft. Die Restaurants sind gut besucht, hinter den Fenstern lachende Gesichter, rotwangig von Seewind und Wein. Noa beschleunigt weiter. Es geht steil bergan.
Erst als sie die Düne
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