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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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erklommen hat und das Pflaster unter ihren Füßen zunächst in einen Bohlenweg, dann in Sand übergeht und die Lichter hinter ihr verblassen, beginnt sie zu weinen – und sie hasst es. Moritz legt den Arm um sie und führt sie zu einem Strandkorb, der offensteht.
    Vor ihnen das Meer, schwarz wie Öl, nur die Gischt schäumt weiß. Mondlicht. Das Grollen der heranrollenden Wellen. Ihr Schluchzen ist kaum zu hören, hofft sie. Sie weint und weint, bis ihr übel wird, weil der Geschmack nach halb verdauter Makrele in ihr aufsteigt. Mühsam kontrolliert sie ihre Atmung. Wenn sie ihre Selbstachtung vor Moritz nicht verlieren will, sollte sie sich jetzt besser nicht übergeben. Still bleibt sie sitzen, bis ihr Körper zur Ruhe kommt.
    Moritz hält sie. »Alles wird gut«, murmelt er und wiederholt es von Zeit zu Zeit wie ein Mantra. »Alles wird gut.«
    Sie glaubt nicht daran. Wie könnte sie auch? Wie soll sie die Lügen verschmerzen? All diese Lügen, ihr Leben, ihre Identität errichtet auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen, sogar die Namen maximal eine Halbwahrheit: Maike Noa Petersen. Anna Audrey Petersen. Maike und Anna. Nie und nimmer können das dieselben Mädchen sein wie Noa und Audrey. Man hat die wichtigsten Bestandteile abgehackt und ihr nur den Mittelteil gelassen, das schmückende Beiwerk, ursprünglich verpönt als Extravaganz. Aus Maike der Insulanerin wurde Noa die Städterin. Die Wunden waren die ganze Zeit vorhanden. Aber jetzt erst spürt sie sie.
    »Du musst mit Audrey reden«, sagt Moritz, als Noa sich seinen Armen entzieht.
    »Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich rede nie wieder mit meiner Schwester.«
    »Natürlich wirst du das.«
    »Sag mir nicht, was ich tun und lassen werde. Ich hasse Audrey.«
    Schweigen.
    Sie sagt es nochmals, in der Hoffnung, dass es irgendetwas mit ihr macht. Dass es den Druck von ihr nimmt.
    Moritz’ Art, nichts zu erwidern, ist alles andere als neutral. Es ist ein Widerspruch. Laut und deutlich.
    Noa hievt sich aus dem Strandkorb und marschiert allein dem ölschwarzen Meer entgegen. Der salzkalte Wind, ihre salzheißen Tränen. Sie wischt sie mit dem Jackenärmel ab. Putzt sich die Nase. Findet einen Halsbonbon in der Gesäßtasche, der den Fischgeschmack vertreibt.
    Allmählich geht es ihr etwas besser. Ganz in der Nähe eine schemenhafte Gestalt. Noa starrt ins Dunkel: es sind zwei. Ein Pärchen. Noa hört eine weibliche Stimme kichern und ist erleichtert.
    Als sie umkehrt und auf die dunkel umrissenen Strandkörbe zuhält, befürchtet sie, Moritz könnte das Weite gesucht haben, aber er ist noch da und ruft sogar nach ihr, damit sie nicht nach ihm suchen muss, wofür sie dankbar ist. Sie hat schon so viel gesucht, den ganzen Tag lang. Sie will nur noch eins: Irgendwo ankommen.
    »Sollen wir ins Hotel gehen?«, fragt er.
    »Nein.« Noa plumpst wieder in den Strandkorb. »Lass uns noch ein paar Minuten hier sitzen.«
    »Okay.«
    Moritz’ Arm liegt locker um ihre Schultern. Irgendwann zieht er sie zu sich heran. Sie ruht in seiner Armbeuge, sieht die Lichter eines Schiffes vorüberziehen, behütet vom Signalfeuer eines Leuchtturms, der in weiter Ferne, auf einer anderen Insel, Helligkeit und Hoffnung in die schwarze Nacht hinausschickt, als gäbe es kein GPS , als wären alle Menschen da draußen auf dem Meer noch ganz auf ihn angewiesen. Und irgendwie, denkt Noa, sind sie das auch.
    Ihr Wunsch, zur See zu fahren, ist größer denn je. Plötzlich ergibt er sogar einen tieferen Sinn. Die Familie Petersen, das hat ihr Sören Westerburg beim Abschied noch zugeraunt, sei ein Clan von Seefahrern und Strandpiraten gewesen, nervenstarke Überlebenskämpfer. Als Letzte ihrer Art würde sie schon klarkommen. Überall auf der Welt.
    »Hast du einen Bonbon gelutscht?«, fragt Moritz unvermittelt.
    »Ja, wieso?«
    »Riecht man. Riecht super. Kann ich auch so einen haben?«
    »Da war nur ein einziger in meiner Tasche. Sorry.«
    »Macht nichts. Dann muss ich dich eben so küssen«, sagt er und wartet nicht auf ihre Zustimmung.
    Ein langer, erster Kuss. Sie ertastet seine Zähne mit der Zunge. Sie sind glatt und scharf. Die Lippen auf genau die richtige Art rau. Eine Weile gibt Noa sich völlig hin, ihre Sorgen lahmgelegt, all ihr Fühlen reduziert auf Sehnsucht und Verlangen.
    Sie erforschen ihre Münder und Körper, bis es ihnen im Strandkorb kalt wird. Zurück in ihrem Hotelzimmer küssen sie sich weiter, aber Noa ist nicht mehr richtig bei der Sache, ihr Kopf meldet sich zurück.

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