Falsche Nähe
Sie denkt an den Lunch im Pavillon, das Kerzenlicht, seine Hand auf ihrer. Sie müssen sich Zeit lassen, und das nicht bloß, weil sie in einer schwierigen Situation steckt. Mit Jannis hat sie alles überstürzt, um am Ende mit nichts dazustehen.
»Du musst jetzt gehen, glaube ich«, sagt sie.
»Ich weiß.«
Plötzlich sind sie beide verlegen. Wünschen einander eine gute Nacht, ohne sich dabei in die Augen zu sehen.
Später im Bett, sie ist schon fast eingeschlafen, vermeldet ihr Handy den Eingang einer SMS . Sie rechnet mit einer Nachricht ihrer Schwester, doch sie stammt von Moritz:
Leg mal deine Hand an die Wand. Ich bin genau dahinter.
Als sie es macht, piept ihr Handy erneut:
Das fühlt sich gut an!
Finde ich auch
Und als befände sie sich nicht inmitten der schlimmsten Krise ihres Lebens, schläft Noa in der Nacht so tief wie schon lange nicht mehr.
WAS WIR NICHT HABEN, BRAUCHEN SIE NICHT , steht neben dem Eingang auf einer schwarzen Tafel, und beim Betreten des Geschäfts erklingt ein helles Glöckchen. Nach der Sonne auf dem Friedhof haben Noas Augen Mühe, sich an das Halbdunkel drinnen zu gewöhnen.
Der Besuch bei ihren Eltern war hart. Ein heller Tag, das Blau des Himmels so tief wie ihre Traurigkeit. Diesmal hatte sie keine Blumen dabei. Sie wusste nicht, was für welche. Morgens am Strand hatte sie stattdessen Muscheln gesammelt, um sie auf den Grabstein zu legen. Es gab nur ein Kreuz. Noa stand lange dort, die Hand auf dem Holz, der Seewind eisig in ihrem Nacken. Moritz hielt sich im Hintergrund. Als sie aufblickte, war der Buchhändler bereits gegangen.
Jetzt also der Laden: KARLAS KUNST- UND KURIOSITÄTENSAMMLUNG . Dort, wo ihr Vater einst Fahrzeuge und, laut Sören Westerburg, gelegentlich auch Kutschen und Fahrräder repariert hat. Beinahe zwei Jahre soll das Haus leer gestanden haben, bevor ein junges Paar aus Berlin auf die Insel übersiedelte, alles auf Vordermann brachte und anfing, allerlei Krimskrams zu verkaufen.
Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht – ziemlich ambitioniert für ein derart konfuses Verkaufskonzept. Noa stromert die Regale entlang. Ihr gefällt die Mineraliensammlung und die große Auswahl an Wollgarn und bunten Stoffen. Sie mag die Ölbilder mit Schiffen, die sich durch stürmische Wogen kämpfen, und das lehmfarbene Geschirr. Freundeskreis-Kerzenhalter findet sie kitschig. Lebende Würmer für Angler eklig. Was sie noch mehr stört: der Duft von Räucherstäbchen und esoterisches Hintergrund-Gedudel. Wie sollen ihre Sinne da auf etwas stoßen, was im Verborgenen, an der Schwelle ihres Bewusstseins darauf wartet, wiedererweckt zu werden? Sie blickt auf ihre Füße. Ist das die Stelle, wo ihre Mutter verblutet ist, ihre blasse, anämische Mutter?
»Kann ich helfen?« Eine Verkäuferin um die dreißig, aschblond, stupsnäsig, vermutlich Karla, lächelt sie unverbindlich an.
Noa stellt ihre Frage, bevor ihre Courage sie im Stich lassen kann. »Dürfte ich vielleicht die anderen Zimmer sehen?«
»Oh, das tut mir leid, wir haben nur diesen einen Verkaufsraum.«
»Das meine ich nicht«, beharrt Noa, »ich möchte das Haus sehen. Ihre privaten Räume, sofern das möglich ist.«
»Warum?«, fragt Karla oder wie auch immer sie heißen mag, aber Noa liest in ihren Augen, dass sie bereits die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Sie stellt sich vor: Die Frau kennt die traurige Vergangenheit ihres angesichts der Lage unverschämt günstig erworbenen Eigenheims, kannte sie vielleicht nicht, als sie den Kaufvertrag unterschrieb, doch inzwischen ist ihr die Geschichte zu Ohren gekommen. Im treuen Glauben an das Gute hofft sie, dass nichts dran ist.
»Ich habe hier mal gewohnt«, sagt Noa. »Als kleines Kind.«
Die Frau ringt mit sich. Noa kann sie verstehen. Sie hat das Gesicht eines mitfühlenden Menschen, aber Noa weiß, sie verlangt viel.
»Bitte. Sie würden mir wirklich einen großen Gefallen tun«, bekräftigt sie.
Stillschweigend treffen sie eine Vereinbarung: Die Hausbesitzerin wird keinerlei Fragen stellen. Noa wird nichts erzählen. Sie lassen Moritz allein zurück und durchwandern ein mit Antiquitäten überladenes Wohnzimmer, in dem der Fernseher läuft, obwohl niemand zusieht, eine neuwertige Küche im Landhausstil, zwei schicke Bäder und zwei Kinderzimmer. Einmal knarrt der Dielenboden auf eine Weise, die Noa vertraut erscheint, doch das besagt nicht viel. Holzdielen gab es auch im Karoviertel. Altes Holz knarrt immer, es lebt und atmet.
Als sie sich
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