Falsche Nähe
auf dem Rückweg in den Laden befinden und Noa eine Durchgangstür öffnet, passiert es. Noa Winter und Maike Noa Petersen werden eins. Sie ist überzeugt, diesen Türgriff schon einmal berührt zu haben, nein, nicht einmal, sondern oft. Sie musste sich strecken, um ihn zu erreichen. Messing, kunstvoll geschmiedet und mit Verzierungen im Jugendstil versehen. Der Anblick sagt ihr nichts, dennoch ist sie sich ihrer Sache ganz sicher. Hände haben ihre eigenen Erinnerungen.
»Wir können gehen«, sagt sie zu Moritz.
»Gleich. Ich kauf noch schnell was.«
»Was denn?«
»Was Schönes.«
Zurück im Freien schlägt er vor, vom Haus und der Nachbarschaft Handyaufnahmen zu machen. Ein vernünftiger Vorschlag, aber Noa lehnt ab. Sie hat genug gesehen. Genug, um es nie wieder zu vergessen. Noch am Morgen ist sie wild entschlossen gewesen, weitere Bekannte ihrer Eltern zu ermitteln und diese dazu zu bringen, mit ihr zu reden. So verrückt es klingt: Nachdem sie den Türgriff berührt hat, hält sie das für überflüssig. Nicht weil sie sich einbildet, ihrem Vater und ihrer Mutter damit nähergekommen zu sein, das nicht. Aber der Augenblick gehörte ihr ganz allein, unverfälscht und unvergesslich. Was auch immer man ihr erzählt, es wird niemals diesen Grad von Wahrhaftigkeit erreichen. Ihre Eltern werden immer Fremde für sie sein, der Charakter, den sie ihnen zuschreibt, ein Konglomerat aus Erzählungen und ihren eigenen Wünschen. Nicht einmal Audrey könnte daran etwas ändern, selbst wenn sie sich die größte Mühe geben würde. Was sie nicht tun wird.
»Ich möchte nach Hause«, sagt Noa.
Der Mann von der Reederei zuckt mit den Schultern und schließt seinen Schalter. Der Hafen von Sande sei nun mal tidenabhängig und der Stand der Gezeiten verschiebe sich unaufhörlich. Im Klartext: Fallen Ebbe und Flut günstig, kann die Frisia die Insel zwei Mal am Tag ansteuern, andernfalls geht nur ein Schiff. Leider ist heute ein ungünstiger Tag, wie Noa feststellen musste, die Chance wegzukommen bereits in aller Herrgottsfrüh vertan, während sie noch beim Frühstücksbuffet saßen und sich ihr Rührei schmecken ließen.
»Mist.« Sie studiert die Anzeigetafel am Anleger ein letztes Mal, als könnte sie noch etwas Kleingedrucktes zu ihren Gunsten übersehen haben. »Wir kommen hier heute echt nicht mehr weg.«
Moritz findet: »Es gibt Schlimmeres. Machen wir einen halben Tag Urlaub. Keine Vergangenheitsbewältigung, sondern einfach bloß frei. Was hältst du davon?«
Noa ergreift seine Hand. »Weiß nicht«, antwortet sie wahrheitsgemäß. »Was hast du eigentlich vorhin gekauft?«
Er hält ihr die Tüte hin. Darin befinden sich zwei Augenmasken im Fledermaus-Stil.
»Heute wird im Haus des Kurgasts Halloween gefeiert. Stand am Schwarzen Brett im Hotel. Sollen wir hingehen? Wird bestimmt lustig.«
»Haus des Kurgasts? Klingt heiß. Da kann ich bestimmt meinen Rollator mitbringen.«
Moritz schmunzelt. »Unter Umständen. Weißt ja: je oller, je doller.«
Im Grunde hat er ja recht: Sie haben wirklich nichts Besseres zu tun. Warum nicht eine Auszeit nehmen?
Händchen haltend stromern sie durch das Geschäftsviertel, wo sie unter Personal und Kunden auf etliche Hexen, Gespenster und Untote stoßen. Sande im Halloween-Fieber. In einer Boutique, die zusätzlich zum normalen Sortiment eine Riesenauswahl an Kostümen bietet, kaufen sie einen schwarzen Umhang und gelbe Kontaktlinsen für Moritz und ein Zombiekleid mit überdimensionalen Trompetenärmeln, das auf zerfetzte Weise sexy aussieht, für sie, dazu Strumpfhosen, eine Federboa und spitze High Heels. Moritz imitiert einen Herzkasper, als er sie in ihrem Outfit aus der Anproben-Kabine kommen sieht. Die Vorstellung, mit ihm auf eine Party zu gehen, lässt auch Noas Puls erneut in die Höhe schnellen.
Audreys Anruf erreicht Noa, als sie gerade im Badezimmer steht und sich vor dem Spiegel für den Abend zurecht macht, unter erschwerten Bedingungen, denn sie hat nur wenige Kosmetika eingepackt. Immerhin: Ihr Lieblingsmascara ist dabei, was fehlt ist der Lippenstift. Sie hat nur Gloss, ziemlich brav für eine Fledermaus. Eine Fledermaus mit langen Wimpern, denkt sie und hängt wie so oft, wenn ihr Anblick sie nicht zufriedenstellt, der Frage nach, warum es so kompliziert ist, sich sexy zu finden. Und das nach so einem Tag.
Wunderschön ist es gewesen. Sie haben viel Zeit im Freien verbracht, Fahrräder gemietet, die sie mit Rückenwind im Nu ans Westende der Insel
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