Falsche Nähe
Menschenauflauf in Bahrenfeld nach der Enthauptung der Blumenverkäuferin. Die Atmosphäre der Angst in den Straßen. Sie weiß, dass sie nur müde ist, dass es falsch wäre, jetzt aufzugeben. Wenn jemand den Schlüssel zur Aufklärung der Bluttaten in den Händen hält, dann sie. Kneifen ausgeschlossen. Schon deswegen, weil der Mörder sie aller Wahrscheinlichkeit nach besser kennt als sie ihn.
Noa schaudert. Wie konnte sie nur in diese Sache hineingeraten? Miriam bemerkt Noas Verzweiflung, legt den Arm um ihre Schultern und zieht sie an sich, was das Gefühl von Hilflosigkeit nur noch schlimmer macht. An Miriams Ohrring klimpern die Glasperlen.
Noa reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, voll darauf konzentriert, nicht in Tränen auszubrechen.
»Ich hole uns ein paar Plätzchen, okay?«, verkündet Miriam und beeilt sich.
Sie essen.
»Sind die gut?«, fragt Miriam.
Sie sind vollkommen, der Teig nicht zu hell, nicht zu dunkel ausgebacken. Die butterige Süße, das Knacken der Streusel zwischen den Zähnen – Noa ist empfänglich für die tröstliche Wirkung von Süßigkeiten. Sie bekommt sich wieder in den Griff.
»Hast du die Leute aus dem Chat schon überprüft?«, will Miriam wissen, nachdem sie beide im Handumdrehen ihre Ration verputzt haben.
»Was für ein Chat?«
Miriam macht ein verächtliches Geräusch. »Sag nicht, du kennst Audreys Chat nicht.«
Errötend schüttelt Noa den Kopf. Sie weiß nur von Audreys Homepage, aber auch die hat sie seit Ewigkeiten nicht angeklickt. Ein weiterer Beweis dafür, wie weit sie sich auseinandergelebt haben, schon lange, bevor Arne einzog – und ohne es zu merken. Daran sind sie wohl beide gleichermaßen schuld.
Miriam schleppt ihren uralten Laptop herbei und bringt Noa auf den neuesten Stand. Offenbar hat Audrey sich seit Jahren mit den Lesern über die Inhalte ihrer Bücher ausgetauscht – gelegentlich sogar, bevor diese erschienen. Auf die Art und Weise konnten die treuesten Fans direkten Einfluss auf den Verlauf der Geschichten nehmen. Das reichte von Meinungsumfragen über Kleinigkeiten, wie zum Beispiel darüber, welche Musik die Heldin Eva Lindberg im Auto hören soll, wenn sie auf dem Weg zu einem Tatort ist, bis zu einer Debatte darüber, wie es sich genau anfühlt, wenn man mehrere Tage lang gefesselt in einer engen Kiste gefangen gehalten wird .
»Boa, ist das krank«, murmelt Noa nach gründlicher Lektüre. »Da geilen sich die Leute ja richtig dran auf.«
»Es geht um den Nervenkitzel«, sagt Miriam. »Ich habe auch mal was geschrieben. Hier: Zum Thema Angst.«
»Ich hatte ja keine Ahnung«, gesteht Noa und pickt mit dem Zeigefinger die letzten Kekskrümel vom Teller. »Was, wenn der Täter einer von den Usern hier ist? Die machen auf mich zum Teil einen ziemlich verschrobenen Eindruck. Nichts für ungut, Miri.«
»Aber die wissen doch nichts von dem Manuskript. Soweit ich gelesen habe, steht über dieses Kopf-ab-Buch kein Wort im Chat.«
Noa legt die Stirn in Falten. Miriam hat recht. »Vielleicht ist ja einer davon Frank«, gibt sie zu Bedenken. »Um deiner Theorie zufolge so viel Einfluss wie möglich auszuüben und alles unter Kontrolle zu behalten. Der hier zum Beispiel. Er hat die meisten Beiträge geschrieben, fast jeden Tag. Seitenlang. Er nennt sich Gixxer13. Du, so wird auch Audreys Motorrad von Kennern der Szene genannt.«
»Man müsste jemanden kennen, der die IP-Adressen von solchen Spinnern herausfinden kann«, überlegt Miriam ohne große Überzeugung.
Noa quietscht auf. »Weißt du was? So jemanden kenne ich. Unser Nachbar Tom ist Programmierer, ein absolutes Ass. Und seine Freundin auch.«
»Meinst du, er würde das für dich tun?«
»Klar, warum nicht.
»Dann frag ihn.«
»Wenn uns das weiterbringt.«
Wenig später bricht Noa auf. Miriam bringt sie zur Tür, wobei sie sie mehrfach anfleht, vorsichtig zu sein. Ob sie nicht besser mitkommen solle. Noa verneint. Sie hält es für klüger, die Angelegenheit allein zu Ende zu bringen.
»Angenommen Frank ist Gixxer13. Was wirst du dann tun? Zu den Bullen gehen? Oder zur Presse?«
»Zur Polizei natürlich. Ich kann schließlich nicht zulassen, dass noch ein weiterer Mord geschieht.«
»Dann musst du dir aber deine Argumente gut zurechtlegen, nicht dass die dich einweisen mit so einer Geschichte.«
»Das Risiko muss ich eingehen«, sagt Noa.
Miriam nimmt sie in den Arm. »Ich sag’s noch mal: Pass auf dich auf. Und wenn das alles vorbei ist, quatschen wir in Ruhe
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