Falsche Nähe
gleichzeitig auf schizophrene Weise, sie vor sich selbst zu warnen? Sollte sie lieber gleich zur Polizei gehen? Und: Wo zum Teufel ist Pancake?
Sie muss sich beruhigen. Nie und nimmer stammen diese paranoid-wirren Zeilen aus der Feder ihrer Schwester. Den zweiten Teil des Manuskripts hat irgendwer verbrochen, der mit dem Schreiben wenig Erfahrung hat, genau wie im Text ja auch kolportiert wird: Ich bin ja nicht die Bestsellerautorin.
Um nicht länger allein zu sein, schnappt Noa sich den Mac, verlässt die Wohnung, in der sie sich nicht mehr sicher fühlt, und fährt mit dem Fahrstuhl eine Etage tiefer. Sie braucht einen Plan. Als Erstes wird sie Tom zu Rate ziehen, wie sie es mit Miriam besprochen hat. Vielleicht sind Gixxer und Frank ja tatsächlich ein und dieselbe Person. Audrey hatte immer großes Vertrauen zu ihm – es könnte doch sein, dass sie ihm irgendwann mal einen Schlüssel für die Wohnung überlassen hat. Damit sind sie beide stets ziemlich leichtfertig umgegangen: Miriam hat auch einen. Womöglich geht der Psychopath, geht zum Beispiel Frank seit Ewigkeiten bei ihnen in der Wohnung ein und aus. Und dreht jetzt wegen Arne endgültig am Rad.
Noa stolpert über die Schwelle zwischen Fahrstuhlschacht und Flur, strauchelt, schrammt sich am rauen Putz der Wand das Handgelenk auf. Wie eine Warnung füllt die Schramme sich mit Blut. Noa starrt darauf.
Immer sachte. Wenn sie Tom dazu bringen will, ihr zu glauben, sollte sie einigermaßen gefasst sein, um ihm die Geschichte verständlich machen zu können.
Sie muss zwei Mal klingeln, bis er die Tür öffnet. Bellmann-Fricke/Hansen steht am Türschild. Nie zuvor hat sie das so bewusst wahrgenommen. Das alberne Sonnenmotiv. Den Namen.
»Hallo, Noa.«
Toms Lächeln wirkt wächsern.
»Noa«, wiederholt er und lächelt geheimnisvoll. »Was für eine wunderbare Überraschung. Gerade wollte ich zu dir kommen und dann kommst du zu mir.«
»Hi«, sagt Noa.
Tom schiebt sie in die Wohnung, schließt die Tür hinter ihnen. Warum dieses seltsame Lächeln?
Sie gelangen ins Wohnzimmer, wo zu ihrer Verwunderung Pancake auf dem Sofa thront.
»Mein Kater ist hier?«, fragt sie. »Ich habe ihn schon vermisst.«
»Ja, er ist hier, stell dir vor. Jetzt seid ihr alle drei hier, das ist das Schöne.«
Noa betrachtet sein Lächeln. Bellmann-Fricke/Hansen. Wie blöd ist sie eigentlich? Endlich – leider zu spät – fällt der Groschen, und Noa begreift, woher sie das Gesicht auf dem Foto kennt. Der Junge ist erwachsen geworden. Er ist seit Monaten ihr Nachbar. Jemand, der perfekt ins Täterprofil passt. Der Audrey verehrt. Dessen Freundin auf Fasching steht, wie Noa jetzt einfällt, weshalb sich in seinem Schrank sicherlich eine Menge Kostüme befinden. Jemand, der sich gut genug mit Computern auskennt, um das von ihm veränderte Textdokument, das einmal Audreys Romananfang war, auf welche Weise auch immer auf ihren Bildschirm zu beamen. Zum Beispiel via Handyspiel. Was weiß sie denn schon?
»Bist du Gixxer13?«, entfährt es ihr, und noch während die Worte im Raum schweben, geht ihr auf, wie idiotisch das war. Sie will schnell etwas anderes sagen, um die Frage zu relativieren, ihn in Sicherheit zu wiegen, doch dazu kommt sie nicht mehr. Ein Hieb ins Genick und vor Noas Augen wird es Nacht.
Komm, wach auf. Wacht beide auf, ihr schönen Schwestern, taucht auf aus den Blutbädern der Vergangenheit und ein in das Tränenmeer der Gegenwart.
Bingo, ich bin Gixxer13. Der nette Nachbar, immer freundlich, immer hilfsbereit. Zur Stelle, wenn man ihn braucht, sonst wunderbar unauffällig.
Lass mich raten, Audrey. Unser Buch wird nie die Bestsellerlisten stürmen. Ich hab’s vermasselt, ich bin nun mal nicht der geborene Schriftsteller, werde es wohl auch nie werden. Trotzdem: Nun, da ich einmal angefangen habe, führe ich mein Werk zu Ende. Mein Vorschlag: Du wirst die Geschichte für uns redigieren. Nicht, um sie anschließend zu veröffentlichen, sondern damit wir beide damit unseren Spaß haben. Und das willst du doch auch – oder? Spaß haben. Du warst immer so verdammt gut drauf, wenn du an deinen Büchern saßt. Erst in letzter Zeit, seit deine Schwester angefangen hat, dir das Leben schwer zu machen, seit dieser Mistkerl bei dir wohnt, hast du eine beschissene Attitüde. Tolles Wort – oder? Attitüde statt Einstellung. Ich hab’s nachgeschlagen. Vielleicht können wir am Titel noch was drehen.
Was Noa angeht: Ich habe das Mädchen immer gemocht. Sogar lieber
Weitere Kostenlose Bücher