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Falsche Nähe

Falsche Nähe

Titel: Falsche Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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über die ganzen anderen Sachen. Über Moritz und deine Eltern und so. Einfach über alles. Abgemacht?«
    »Abgemacht.«
    Wieder zu Hause. Das Apartment ist verwaist, Audrey hat sich wie angekündigt aus dem Staub gemacht, auch von Pancake fehlt weiterhin jede Spur. Noa schwirrt der Kopf. Sie kocht sich einen Tee, isst einen Apfel. Bevor sie wie besprochen zu Tom geht, will sie ihre Gedanken ordnen und dann Audreys Text nochmals lesen, entschlossen, die Geschichte diesmal ganz gezielt aus der Sicht eines möglichen Täters wahrzunehmen. Falls das überhaupt möglich ist. Kann man sich in einen wahnsinnigen Killer hineinversetzen? Auf der Suche nach etwas, das diesen Irrsinn beendet, sollte sie es zumindest probieren.
    Während Noa darauf wartet, dass der Computer hochfährt, nimmt sie das Bild von ihren Eltern aus dem Drucker und versinkt in seiner Betrachtung. Was würde sie dafür geben, eine Zeitreise unternehmen zu können, und sei es nur für einen kurzen Moment, nur einmal noch zu dem Baby auf dem Arm dieser fremden Frau – und dieses Gefühl dann hineinretten in die Gegenwart. Wenn sie doch nur mehr fühlen könnte, eine Bindung aufbauen. Noa ist Atheistin aus Überzeugung, aber manchmal wünschte sie, sie wäre es nicht. Sie kennt Leute – Miriams Mutter! – die ernsthaft an Engel glauben. Vielleicht gehen diese esoterisch bewanderten Gemüter kraft ihrer Überzeugung ja tatsächlich ein bisschen behüteter durch das Leben.
    »Mama«, sagt sie, um zu ergründen, wie es sich anfühlt. In ihrem leeren Zimmer, in der leeren Wohnung klingt es absurd. Als Kleinkind muss sie das Wort auf diese Weise benutzt haben. Damals ist es nicht absurd gewesen.
    Plötzlich entdeckt sie unter den Menschen, mit denen ihre Eltern zusammenstehen, ein Gesicht, das ihr bekannt vorkommt. Ein Junge, cirka zwölf, dreizehn Jahre alt. Ihre Entdeckung ist komischerweise ein Schock und erscheint Noa so bedeutsam, dass sie spontan zum Handy greift und Sören Westerburg anruft. Zum Glück ist er niemand, der sich lange mit dem Austausch von Höflichkeiten aufhält.
    »Maike Noa, was kann ich für dich tun?« Sie hört das Lächeln in seiner Stimme, doch gleichzeitig ist da ein tiefer Ernst.
    »Kannst du dir das eine Foto, das du mir geschickt hast, nochmals ansehen bitte. Das mit mir als Baby.«
    »Moment.«
    Im Hintergrund ist Geraschel und das Klackern einer Tastatur zu vernehmen.
    »Bin soweit«, sagt Westerburg.
    »Dieser Junge da im Hintergrund. Der mit der Eistüte in der Hand. Kennst du den?«
    »Klar kenne ich den, das ist Thomas Hansen. Netter Bengel. Also inzwischen ist er natürlich erwachsen. Keine Ahnung, was aus dem geworden ist. Seine Eltern waren beide Kellner im Kurhaus-Hotel. Bevor es so etepetete wurde. Thomas ist bei deinem Vater in die Lehre gegangen, kurz bevor …« Er lässt den Satz unvollendet und räuspert sich verlegen. »Danach zog er aufs Festland, um seine Ausbildung zu beenden. Warum fragst du nach ihm?«
    »Sein Gesicht. Ich glaube, ich kenne ihn.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich an ihn erinnern kannst. Du warst noch zu klein.«
    »Vermutlich nicht.«
    Noa bedankt sich und legt auf. Thomas Hansen. Ihr Namensgedächtnis leistet Schwerstarbeit – vergebens. Als würde sie eine frisch abgewischte Tafel anstarren, in der Hoffung, das, was zuvor dort geschrieben stand, könne von selbst sichtbar werden.
    Resigniert öffnet sie Audreys Apokalyptische Reiter – und bekommt gleich den nächsten Riesenschreck. Der Text ist länger geworden. Zunächst zweifelt sie an ihrer Zurechnungsfähigkeit, aber dann findet sie die Stelle, die sie zuletzt gelesen hat, und ist sich sicher: Nach den stichwortartigen Notizen im Anschluss an das Kapitel mit diesem Japaner sind beinahe zehn Seiten dazugekommen. Hat Audrey doch weitergeschrieben? Wenn ja, was bedeutet das? Ist doch ihre Schwester die Wahnsinnige? Wie sonst soll die erweiterte Fassung denn überhaupt auf Noas Computer gelangt sein?
    Anders als geplant hält Noa sich nun doch nicht mit der Lektüre des bekannten Texts auf, sondern springt gleich zu den neuen Passagen. Nachdem sie alles gelesen hat, ist sie mit den Nerven am Ende. Der Mord an dem Jugendlichen wurde angekündigt. Und – wenn sie diese niveaulosen Ergüsse richtig interpretiert – kommt sie als Nächstes an die Reihe.
    Noa bricht der Schweiß aus, sie fährt sich durchs Haar, bis die Haarwurzeln kribbeln. Verspürt ihre eigene Schwester den Wunsch, sie zu ermorden, und versucht

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