Falsche Nähe
Fall«, sagt Noa, und ihr Gesicht hellt sich auf. »Ich habe mir zufällig seinen Führerschein angesehen. Er hat nur Klasse B. Und die ist für Pkw, so viel ich weiß. Ich glaube nicht, dass man ein Motorrad einfach so ohne entsprechende Schulung steuern kann.«
»Gut, dein Moritz ist raus«, sagt Miriam und streicht den Namen durch. »Glückwunsch. Aber wer außer Audrey fährt denn nun Motorrad?«
»Frank! Der Agent. Durch ihn ist Audrey erst auf die Idee gekommen.«
»Heißt der nicht sogar Schwertfeger?«
Sie schauen sich an. »Ach komm«, sagt Noa zögerlich. »Das ist jetzt echt zu billig.«
Komischerweise muss sie sich anstrengen, um ein zuverlässiges Bild des Literaturagenten vor ihrem inneren Auge entstehen zu lassen. Seinen kompakten Körper, Schultern und Nacken muskulös wie bei einem Bodybuilder, sieht sie ihn vor sich, die maßgeschneiderten Anzüge, die Verehrung für Audrey in seinem Gesicht. Aber ist er groß oder klein? So groß wie der Typ, der sie auf Sande bedroht hat? Das Dumme: Meistens sitzt Frank, wenn sie ihm begegnet. Wie soll sie da seine Größe beurteilen? Immerhin fällt ihr etwas anderes ein: Der Mann hat eine Vorliebe für verspiegelte Sonnenbrillen. Und das Phantom trug eine verspiegelte Kapuze!
»Was für ein Motiv könnte er haben, so schreckliche Morde zu begehen?«, überlegt Noa. »Will er Audrey eins auswischen, weil sie sich einen Freund gesucht hat? Will er der Polizei Beweise zuspielen, damit sie in den Knast kommt? Oder denkt er, damit würde er die Idee besser verkäuflich machen? Mann, das wäre so abartig.«
»Quatsch. Völlig anders. Ist doch klar, was der Täter will«, sagt Miriam, eine versierte Krimi- und Thrillerleserin mit Interesse an psychologischen Themen. »Er will Audrey nah sein.«
Noa hebt die Brauen. »Indem er genau die Morde verübt, die sie sich ausgedacht hat?«
»Exakt. Pass auf, es ist ganz einfach: Wir müssen aufhören, in normalen Kategorien zu denken. Wer so etwas tut, ist wahnsinnig , da sind wir uns ja wohl einig. Und die Handlungen von Wahnsinnigen folgen ihren eigenen Mustern, einer Logik, die auf den ersten Blick niemand außer ihnen kapiert. Angenommen, der Agent ist der Killer und angenommen, er liebt Audrey. Er fühlt sich als Mitschöpfer ihrer Werke, hält sich für den Mann an ihrer Seite – auch wenn sie vermutlich nie was miteinander hatten. Aber dann geht alles schief und seine Seifenblase zerplatzt. Ein Buch, das Audrey besonders am Herzen liegt, wird abgeschmettert, und ungefähr zeitgleich verliebt sie sich auch noch in einen anderen. Da muss er, seinen eigenen Regeln folgend, zu besonders harten Mitteln greifen, um die alte Ordnung wiederherzustellen.«
»Aber Audrey interessiert sich doch gar nicht mehr für die blöde Buchidee! Anfangs ist sie deshalb total durchgedreht, aber mittlerweile ist das Projekt ihr egal. Ich glaube, sie kümmert sich momentan überhaupt nicht um ihren Job.«
»Falls der Täter das weiß, dürfte ihn das ziemlich frustrieren. Schließlich definiert er darüber seine Verbindung zu ihr. Was ihn noch gefährlicher macht.«
Miriam genießt den Nervenkitzel sichtlich, während Noa daran denken muss, wie Tobias einst auf der Terrasse zu ihr sagte, Audreys Buch sei gefährlich. Besitzt der Mann hellseherische Fähigkeiten und meinte genau diese Art von Gefahr? Kaum denkbar.
»Hör zu, Miriam«, sagt sie und beschreibt mit den Händen eine hilflose Geste. »Ich kenne Frank. Nicht besonders gut, aber ich kenne ihn. Er ist ein stinknormaler Geschäftsmann. Er ist nicht wahnsinnig .«
»Und du glaubst, das sieht man den Leuten an der Nasenspitze an? Genau wie du gesehen hast, wie viele Geheimnisse Audrey mit sich herumträgt.«
»Nett, dass du mich daran erinnerst.«
Unten auf der Straße ertönt das Martinshorn eines Polizeiwagens, Blaulicht streicht über die orange getünchte Rauhfasertapete und ist gleich wieder verschwunden. Noas erster Gedanke ist: Sollen die sich doch mit dem ganzen Mist befassen, die Profis, die wirklich etwas davon verstehen. Dann könnten sie und Miriam sich anderen, altersgerechteren Themen widmen: Jungs zum Beispiel. Moritz’ und ihre Annäherung im Strandkorb: das war heiß. Liebend gern würde Noa wie in besten Teenagerzeiten den Tag vergeuden, hirnlos kichernd ein paar Details ausplaudern und damit Miriams Neugier anstacheln, ohne sie voll und ganz zu befriedigen. Doch bevor sie drauflos plappern kann, erinnert sie sich an den toten Teenager im Park und den
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