Falsche Opfer: Kriminalroman
dem Verdacht erfuhr, wäre er ein toter Mann. Was Gunnar Nyberg in diesem Augenblick durchströmte, war Macht. Reine Macht. Er begriff plötzlich exakt, was es bedeutete, das Leben eines Mannes in seinen Händen zu haben. Es war unerträglich.
Vielleicht hätte er am Computer bleiben sollen. Im sicheren Cyberspace.
»I don›t know what you›re talking about«, sagte Petrovic schließlich, doch sein Blick sagte etwas ganz anderes.
Nyberg schaltete auf Englisch um; es ging ein bisschen holperig. »Nach dem Kriegsende in Kroatien wechselten Sie für eine kurze Zeit von der Position eines paramilitärischen Befehlshabers als gemeiner Legionär zur französischen Fremdenlegion. Während dieser Zeit trafen Sie einen ehemaligen schwedischen Offizier mit Namen Niklas Lindberg. Als Sie sich hier in Kumla wiederbegegneten, gaben Sie Informationen über eine große Transaktion zwischen ihrem Arbeitgeber Rajko Nedic und einem Dritten an Lindberg weiter. Lindberg benutzte diese Information, um Nedics engsten Vertrauten Lordan Vukotic zu töten und drei Angestellte Nedics in der sogenannten Sicklaschlacht zu berauben und zu ermorden, wobei auch die Lieferung gestohlen wurde.«
Petrovic starrte Nyberg an. Sein Blick suchte einen Ausweg. Er wusste nicht, ob er in dem großen Polizeibeamten, der wie ein Grizzlybär aussah, einen solchen finden würde. Vielleicht. Er wiederholte, in erster Linie, weil es von ihm erwartet wurde: »I don›t know what you›re talking about.«
Es klang so hohl, dass Nyberg ihn ganz einfach ignorierte.
»However«, sagte er und nickte. »There is a way out.«
Sie fixierten sich eine Weile. Der paramilitärische Befehlshaber und Schwedens größter Polizist. Der Fremdenlegionär und Mister Sweden. Es erschien ihm männlich bis zum Rand des Absurden.
»Wir warten auf einen Polizisten, der Lars Viksjö heißt. Er wird Sie an einen sicheren Ort bringen. Sie werden Kronzeuge, bekommen eine neue Identität und werden an jeden Ort auf der Welt gebracht, an den Sie wollen. Im Austausch dagegen erfahren wir folgendes. Erstens: wie die Verbindung zwischen Ihnen und Niklas Lindberg aussieht. Zweitens: alles Erdenkliche und Unerdenkliche über Rajko Nedics Organisation. Drittens: um was für eine Lieferung es sich handelte.
Viertens: wer der Empfänger der Lieferung war. Fünftens: wozu Lindberg sie benutzen will. Sechstens: wo Lindberg und seine Bande sich derzeit aufhalten.«
Risto Petrovic schloss die Augen. Er saß vollkommen still. Als er die Augen wieder aufmachte, war sein Beschluss gefasst. Es war deutlich zu sehen. »Ich weiß nicht, wo Niklas Lindberg ist«, sagte er.
Danach sagte er nichts mehr.
Nach einer Viertelstunde absoluten Schweigens traf Lars Viksjö ein und nahm Petrovic mit. Der hatte erneut das Leben gewechselt.
Es würde interessant sein zu sehen, wie Rajko Nedic reagierte.
Gunnar Nyberg erlaubte sich einen Augenblick stiller Kontemplation. Nein, gestand er sich ein, nicht Kontemplation, das war zuviel gesagt. Eher einen Augenblick reiner und äußerster Selbstzufriedenheit.
Dann rief er Hultin an und erstattete ihm Bericht.
Hultin sagte: »Verdammt gute Arbeit, Gunnar.«
Nyberg sagte: »Schon gut.«
Dann setzte er sich in seinen klapperigen Renault und tuckerte nach Hause. Kurz hinter Enköping kam er zu der kleinen Ortschaft mit Namen Grillby. Er musste anhalten. Was war mit diesem Grillby? Warum verlangte es gerade im Augenblick des Triumphs Aufmerksamkeit von ihm?
Grillby. Kleines Häuschen. Das Häuschen einer Tante. Jugendliches Gefühl von Freiheit. Abschluss der Polizeihochschule. Zwanzig Jahre her. Fünf Mann und ein Kombi voll mit Sechserpacks.
Was hatte er noch gesagt? ›Ich fahre raus zur Hütte und lade die Batterien auf.‹
Warum es nicht versuchen? Gunnar Nyberg folgte einer zwanzig Jahre alten inneren Karte. Grillby war anscheinend völlig unverändert, denn er fand den Weg ohne Probleme. Er fand einen kleinen Schotterweg, der aus der kleinen Ortschaft hinaus und in den großen Wald hinein führte. Ein paar Kilometer folgte er der immer unwegsamer werdenden Piste. Die Sonne verwandelte den alten Renault in einen Backofen und Gunnar in einen schmorenden Hackbraten. Er zweifelte immer mehr an seiner Erinnerung und seinem Ortssinn. Schließlich öffnete sich jedoch eine Lichtung in dem ziemlich lichten Mischwald, und die kleine Kate tauchte auf. Sie war vollkommen unverändert. Sie lag am Waldrand und wirkte verlassen. Eine kleine Waldkate in faluroter
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