Falsche Opfer: Kriminalroman
und eine eigene Wohnung. Studiert Mathematik an der Universität. Vor einem Jahr hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Schnitt sich die Handgelenke auf. Der Länge nach. Sie wäre fast gestorben. Aber wenn ich sie in der letzten Zeit im Haus gesehen habe, wirkte sie nicht mehr so unglücklich. Ich weiß noch, dass ich dachte: Hoffentlich hat sie jetzt jemanden gefunden, jemanden, der sie glücklich machen kann, der ihr etwas von der Kindheit geben kann, die sie nie gehabt hat. Ich hoffe das wirklich.«
»Können Sie noch mehr sagen?«
»Rajko hatte selbst die gleiche Kindheit. Ich weiß das, denn ich habe mit ihm genauso dagesessen. Als wir Kinder waren. In dem kleinen Gebirgsdorf im östlichen Serbien. Ich konnte ihn ebenso wenig trösten. Deshalb sind wir weggegangen. Um von all dem fortzukommen. Er glaubte, dass er seine Vergangenheit hinter sich lassen und ein anderer werden könnte. Aber sobald Sonja da war, kehrte es zurück. Er wiederholte das Verhalten seines eigenen Vaters. Und ich saß nur da. Wieder einmal. Pfui Teufel. Onkel Jubbe.«
»Und der Rest der Familie?«
»Es sind zwei Kinder da. Bei seinem Sohn hat er der Versuchung widerstanden. Er ist drei Jahre älter und arbeitet in der Organisation mit. Doch bei Sonja konnte er nicht widerstehen. Und seine Frau hat die Augen noch fester verschlossen als ich. Sie leidet an Kaufzwang und kauft sich aus der Wirklichkeit heraus. Und Rajko kultiviert seinen Garten, um ein Paradies zu schaffen, das er nie verstanden hat.«
»Andere Kinder?«
»Es hat auch andere Kinder gegeben. Ich weiß nicht, woher er sie bekommt. Jetzt, wo Sonja erwachsen ist, sind es andere Kinder. Vielleicht kauft er sie.«
»Und weiter?«
»Es ist wohl sowieso zu spät jetzt. Ich sage Ihnen alles, was ich weiß, Sara. Sie scheinen eine fähige Frau zu sein, aber Sie müssen wissen, dass ich eigentlich nicht besonders viel weiß. Ich kann mit den ›Sicherheitsberatern‹ anfangen. Zwei eklige Schweden, ehemalige Polizisten. Bei der Säpo. Sie heißen Gillis Döös und Max Grahn.«
»Den Rest können Sie den Drogenfahndern erzählen. Die warten schon vor der Tür. Ich will noch wissen, wo diese Pädophilenabsteige ist. Die Wohnung mit geräuschisolierten Wänden, die aussehen wie Bordellkissen aus Gold.«
Ljubomir lächelte zaghaft hinter seiner verschmierten Farbmaske. »Er ist da jetzt«, sagte er. »An diesem Ort.«
»Was sagen Sie da?« stieß Sara Svenhagen hervor. »Und das sagen Sie erst jetzt?«
»Nein, nein«, sagte Ljubomir. »Sie hat jetzt eine andere Funktion, die Wohnung. Es hat nichts mit Kindern zu tun.«
Sara atmete auf. Dann sagte sie: »Und wo liegt die Wohnung?«
»Am Hornstull. Hornsgatan 131. Dritte Etage. Ahlström steht an der Tür. Aber er hat mindestens fünf Mann bei sich, also seien Sie vorsichtig, Sara. Sie sind schwer bewaffnet.«
Sie nickte eine Weile. Dann betrachtete sie den Mann vor sich. Ein Funkeln war in seine Augen getreten. Dinge waren ans Licht des Tages gekommen, die jahrelang eingeschlossen und versiegelt gewesen waren. Und vielleicht hatte er irgendwie einen ganz, ganz kleinen Teil der Schuld bei Sonja Nedic zurückbezahlt. Meine kleine Sonja.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Jetzt konnte Ljubomir in Frieden sterben.
Er war wieder Onkel Jubbe.
Und jetzt – endlich – hatte er etwas getan.
43
P aul Hjelm hatte getötet.
Er war angeschossen worden.
Kerstin Holm hatte – so hatte es ausgesehen – den Tod gesehen und gesagt, dass sie ihn liebe.
Jedes einzelne dieser Ereignisse reichte aus, um sein Leben zu verändern. Er war gezwungen, den ganzen Kram zu verdrängen. Um in die Rolle als Verhörleiter zu schlüpfen.
Hultin hatte nämlich die Rollen verteilt. »Verflixt, dass das Kerstin ausgerechnet jetzt passieren musste«, sagte er barsch. »Jetzt musst du Jorge als Beisitzer mitnehmen. Ihr zwei übernehmt die Verhöre von Kullberg und Petrovic.«
So wurden die ehemaligen Helden zu autorisierten Verhörleitern.
Jorge Chavez hatte während der Schießerei einen Panikanfall gehabt.
Er hatte von seinem Chef eine Ohrfeige bekommen.
Er hatte eigentümliche Mauern gegen die Frau errichtet, in die er frisch verliebt war. Auch dies war genug für ein paar Metamorphosen. Und auch das musste verdrängt werden.
Sie betraten den Vernehmungsraum in einem gutisolierten Teil des Präsidiums. Da drinnen saß ein kleiner Mann mit löchriger Zahnfront, verpflasterten Augenbrauen und blauen Flecken im Gesicht.
Er
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