Falsche Opfer: Kriminalroman
durcheinander, die Leute drängten zur Tür. Ich sah nur, wie er mit einem Polizeiausweis wedelte, und da hab ich ihn rausgelassen.«
»In die Freiheit«, sagte Paul Hjelm.
7
V iggo Norlander war scharf. Bissig. Hungrig.
Einem außenstehenden Betrachter konnte es sich so darstellen, als sei er ein hochmotivierter Polizeibeamter, der um jeden Preis einen komplizierten Mordfall lösen will.
Arto Söderstedt war kein außenstehender Betrachter. Er war ein skeptischer Betrachter. Und Viggo Norlander war kein hochmotivierter Polizeibeamter, der um jeden Preis einen komplizierten Mordfall lösen will. Er war ein hochmotivierter frischgebackener Vater, der um jeden Preis das Mittsommerfest mit seiner kleinen Tochter verbringen wollte.
Söderstedt fand das nicht in gleichem Maße ehrenwert. Er rief sich all die abgeblasenen Mittsommerfeiern mit seinen enttäuschten und weinenden Söhnen und Töchtern in Erinnerung und verspürte einen Stich von Neid angesichts der Zielbewusstheit Norlanders. So zielbewusst war er selbst nie gewesen.
Andererseits war seine Vaterschaft nie ähnlich außergewöhnlich gewesen. Im Gegenteil, er empfand sich als ein ausgesprochen normaler Vater. Anjas fünf Schwangerschaften waren ohne größere Komplikationen verlaufen, die Kinder waren eine Woche zu früh oder zu spät herausgeflutscht, kerngesund und kreideweiß. An der Vaterschaft konnte nie gezweifelt werden. Es sei denn, ein anderer Weißfinne hätte in den söderstedtschen Kleiderschränken gehockt und wäre wie Jack in the box jedes Mal herausgeflogen, wenn der Gatte sich auf den Weg zur Polizeistation gemacht hatte.
Oder zum Gerichtssaal. Denn Söderstedts eigene kleine Extravaganz hatte nichts mit seinem Familienleben zu tun. Es war seine Karriere, die ungewöhnlich war. Und geheim. In sehr jungen Jahren war er fast besinnungslos in Rekordzeit durch die finnische Juristenausbildung gespurtet, war Anwaltsgenie in einer angesehenen Kanzlei geworden und hatte bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren den Abschaum der Welt verteidigt. Die bessergestellten Teile des Abschaums der Welt. Menschen, die es sich leisten konnten, einen Staranwalt wie Arto Söderstedt zu engagieren, um dem langen Arm des Gesetzes zu entwischen. Und noch darauf zu scheißen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ein Hund auf eine Wiese scheißt.
Schließlich hatte er ganz einfach genug. Warf seine Hugo-Boss-Anzüge und Armani-Schlipse fort, verschrottete den Porsche, gab seine finnische Staatsbürgerschaft auf, entfloh der Aufmerksamkeit nach Schweden und wurde – Polizist. In dem hartnäckig beibehaltenen Glauben, dass ein System sich trotz allem nur von innen heraus verändern lässt.
Und an diesem Nachmittag, während vor den Mauern die Hochsommersonne langsam niederging, saß er gemeinsam mit dem Abschaum der Welt von der zweiten Sorte zusammen im Bunker von Kumla. Der Sorte, die sich keinen Toppanwalt wie Arto Söderstedt leisten konnte, um dem langen Arm des Gesetzes zu entwischen.
Er war nicht durch und durch zufrieden.
Aber Viggo Norlander war wie der Fisch im Wasser. In drastischer Weise uninteressiert an formellem Rang, hatte er Übergeordnete wie Bernt Nilsson von der Sicherheitspolizei und Lars Viksjö von Närkes Länskrim auf die Zuhörerbank verbannt. Oder war es die Auswechselbank?
Er hob seinen energiedampfenden schief-einwärts-nach-hinten-Riecher von dem Papierhaufen vor sich und blickte über die Versammlung in dem kleinen kahlen Vernehmungsraum. »Versuchen wir mal zusammenzufassen, bevor wir ihn reinlassen«, fragte er ohne Fragezeichen. »Der Wachmann Erik Svensson sah, dass Lordan Vukotic nach dem Wecken um halb sieben noch tief ins Bett vergraben liegenblieb. Unter seinem Laken teilte Vukotic mit, dass er sich nicht gut fühle, und bat darum, das Frühstück auslassen zu dürfen, was ihm erlaubt wurde. Als um acht Uhr sechsunddreißig die Bombe hochging, war er folglich seit dem Abend zuvor nicht aus seiner Zelle herausgekommen. Können wir daraus irgendwelche Folgerungen ziehen?«
»Es ist vielleicht nicht unwahrscheinlich, dass es zwischen dem Auslassen des Frühstücks und der Explosion einen Zusammenhang gibt«, sagte Bernt Nilsson. »Aber wenn ja, wie sieht der aus? War er wirklich dabei, unter dem Laken eine Bombe zu basteln, und etwas lief schief und sie ging von selbst hoch?«
»Hände auf die Decke«, sagte Söderstedt und wurde dafür mit Blicken der Art belohnt, wie sie einem singenden Orang-Utan im
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