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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Reichskriminalamt war im Moment verwaist. Verwaist bedeutete allerdings nicht, dass niemand arbeitete. Die Tochter des Chefkriminaltechnikers Brynolf Svenhagen arbeitete nämlich.
    Allerdings zu Hause.
    Sie hatte ihren beiden Kollegen, den Jugendfreunden Gunnar Nyberg und Ludvig Johnsson, gesagt (und sie zitierte im Halbdunkel sich selbst): ›Ich lass es ruhig angehen. Schalte mal ab. Es ist alles ein bisschen zu sehr auf Hochtouren gelaufen die letzte Zeit.‹ Der zweite Teil ihrer Äußerung war zutreffend, der erste war falsch. Sie hatte gelogen. Aber es durfte immerhin als eine Notlüge bezeichnet werden. Sie strich sich über das frischgestutzte blonde Haar und klickte sich mit der Maus weiter durchs Intranet. Sie war mit dem Zentralrechner der Polizei verbunden. Und sie würde noch viele Stunden arbeiten. So gut kannte sie sich selbst.
    Obwohl sie sich nicht wiedererkannte.
    Jetzt spiegelte sie sich plötzlich dort im Bildschirm, und wieder einmal war ihre instinktive Reaktion, dass sie dem Ordner ›Favoriten‹ im Internet – Explorer beigekommen und auf einer weiteren Kinder-Porno-Site gelandet war.
    Auf dem Bildschirm zeichnete sich nämlich ein kleiner Junge ab.
    Sie stand auf und begann, in ihrer Zweizimmerwohnung in der Surbrunnsgata auf und ab zu gehen. Hatte sie sich deshalb ihre langen goldblonden Haare abgeschnitten? Um einem Opfer der Kinderpornographen zu gleichen?
    ›Was ist denn in dich gefahren?‹ wie Gunnar Nyberg spontan herausgeplatzt war, als sie in Annikas Cafe & Speiselokal saßen und aßen und Sonne tankten.
    Ja du, Sara, was ist in dich gefahren? Fragte sie sich. Identifikation mit den Opfern? Spürte dein Unterbewusstsein, dass du dich allzu weit von der entsetzlichen Wirklichkeit entfernt hattest? Dass du aus einer Distanz heraus arbeitetest? Dass der Computer als immerwährendes Arbeitsgerät bewirkte, dass du dich in einem ewigen Cyberspace bewegtest? Dass ebendieses Gerät an sich den Grässlichkeiten des Kindesmissbrauchs einen Schimmer von Unwirklichkeit verlieh? Und damit einen versöhnlichen Schimmer?
    Der Abstand war ja groß. Sie selbst war in einer ruhigen, stillen grauen patriarchalischen Vorortwelt mit polizeilichem Anstrich aufgewachsen. Der urgesteinschroffe Brynolf drillte seine drei Kinder freimütig, nicht darin, mit vier Jahren vier Sprachen zu sprechen, nicht darin, mit acht Sinfonien zu komponieren, auch nicht darin, mit zwölf Tennisprofi zu sein, nein, er drillte sie in kriminaltechnischen Verfahrensweisen. Er ließ einfach die Kinder ein von der Ehefrau penibel aufgeräumtes Zimmer betreten, sich darin umsehen, schickte sie dann auf die Toilette, wo sie warten mussten, bis sie wieder herausgerufen wurden. Etwas war dann mit dem Zimmer geschehen, und die Kinder sollten mit Hilfe von Empirie und List herausfinden, was. Das waren eigentlich die einzigen Gelegenheiten, bei denen Sara ihren Vater richtig glücklich erlebte. Im übrigen war er weder gut noch böse, weder kumpelhaft noch gemein, sondern schlicht und einfach schroff. Wie ein altmodischer Patriarch.
    Nein, die Ursache dafür, dass sie sich selbst so scharf antrieb, war kaum in ihrer Erziehung zu finden. Anderseits hielt sie noch viel weniger von dem genetischen Erklärungsmodell. Natürlich trug sie kein Polizei-Gen in sich, das sie dazu zwang, Lösungen zu suchen. Auch kein Mitgefühl-Gen, das sie dazu brachte, mit den missbrauchten Kindern zu leiden. Und natürlich gab es – selbst wenn dies täglich in dem einen oder anderen Diskussionszusammenhang behauptet wurde – auch kein Pädophil-Gen, das ganze Stammbäume von Männern ihr Geschlecht vor kleinen Kindern entblößen und an gebrauchten Windeln schnüffeln ließ. Krankheit, ja -eine ganze Welt innerhalb der Welt der groteskesten Krankheit. Genetik, nein – keine Pädophil-Gene. Das zu glauben weigerte sie sich.
    Nein, sie verstand den Grund dafür, dass sie sich den Hintern abarbeitete, ebenso wenig, wie sie den Grund dafür verstand, dass sie sich plötzlich das Haar abschneiden ließ. Sie wusste nur, dass sie weitermachen musste, dass sie um jeden Preis den Dingen auf den Grund gehen musste und nicht zulassen durfte, dass durch eigene oder anderer Menschen Leichtfertigkeit auch nur ein einziges Kind in der Welt sexuell missbraucht wurde, wenn dies verhindert werden konnte. Das war der Antrieb. Jedes kleine Versäumnis war gleichbedeutend mit Schuld. Und deshalb nahm sie eine immer übermenschlichere Arbeitsbürde auf sich. ›Es ist alles

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