Falsche Opfer: Kriminalroman
Und das bedeutet, dass wir schleunigst den Koffer finden müssen. Erste Priorität also. Jaja, volle Kanne. Bis bald.«
Der drehbare Ledersessel machte eine halbe Drehung. Zum ersten Mal wurde ein Blick zur Tür geschickt. Und als der nächste Sprachwechsel stattfand, galten die Worte endlich dem Mann an der Tür. Und es war endlich die Sprache, die einmal den Mut gehabt hatte, sich serbokroatisch zu nennen.
»Ljubomir«, sagte der Große und winkte ihn zu sich. »Keine Spur?«
Ljubomir schritt quer durch den großen Arbeitsraum, begegnete dem scharfen Blick und schüttelte nur den Kopf.
»Und das Geld ist wirklich eingeschlossen?«
»Ja. Wahrscheinlich war es ein Fehler, Jovan das Bankfach einrichten zu lassen. Jetzt, wo er tot ist, haben wir weder einen Schlüssel noch die Unterlagen. Das Geld ist eingeschlossen. Es sei denn, wir rauben die Bank aus.«
Der Große zog leicht die Augenbrauen in die Höhe; das verhieß nichts Gutes. »Wir mögen seit unserer Kindheit befreundet sein, Ljubomir«, sagte er sanft, »aber denk daran, dich niemals, ich wiederhole: niemals darüber zu äußern, was deiner Meinung nach ein Fehler war oder nicht. Das liegt weit jenseits deiner Befugnisse. Du sollst nur das veranlassen, was ich dir sage. Das ist deine einzige Aufgabe.«
Ljubomir blickte hinunter auf den Schreibtisch.
»Hast du es?« fragte der Große.
Ljubomir nickte und legte eine Schultertasche auf den Schreibtisch. Er öffnete den Reißverschluss und holte ein Funkgerät heraus.
Der Große betrachtete es und sagte: »Die Frequenz?«
»Ist eingestellt. Du kannst gleich anfangen. Drück einfach auf den Knopf am Mikrophon.«
Wieder dieser Blick. Und dann eiskalt: »Ich weiß, wie ein Funkgerät funktioniert.«
Der Große saß einen Moment still mit erhobenem Mikrophon da. In diesen wenigen Sekunden glaubte Ljubomir, das wahre Wesen des Großen zu sehen; es zog wie ein eiskalter Nordwind über sein Gesicht und spannte die Gesichtszüge. Der jetzt sprechen würde, war ein anderer. Ein Herrscher. Ein Beherrscher. Der fürchterlichste Widersacher, den man sich vorstellen konnte.
Dann drückte er auf den Knopf und wechselte erneut die Sprache. Mit deutlichem, fast pädagogischem Nachdruck sagte der Große auf schwedisch: »Dies ist eine Mitteilung an dich, der du meinen Aktenkoffer gestohlen hast. Du weißt, dass ich dich fassen werde. Und du weißt auch, was dann passiert. Um ungefähr zu verstehen, bedarf es nur eines Minimums an Phantasie. Doch nicht einmal die bestentwickelte Phantasie reicht aus, es genau zu verstehen. Also gib den Koffer jetzt zurück. Wenn du nachdenkst, siehst du ein, dass das in aller Interesse liegt.«
Dann wechselte er von neuem die Sprache und wiederholte die Mitteilung auf englisch. Wort für Wort.
Ljubomir schauderte es.
Er hoffte, dass man es ihm nicht ansah.
Sie lagen wieder im Bett. Er war hell, sie war dunkel, und endlich schliefen sie.
Nach der längsten Nacht ihres kurzen Lebens waren sie ineinander verschlungen eingeschlafen, immer noch miteinander verbunden, ineinander. Die Vormittagssonne schien auf das heruntergezogene Rollo, und obwohl es in dem kleinen Appartement um die dreißig Grad war, hatte keiner von ihnen sich vom anderen wegbewegt. Sie weigerten sich, auseinander zugehen.
Doch bald würde es notwendig werden.
Das war nicht das, was sie sich gedacht hatten.
Als sie übermütig durch die Tür hereingetanzt waren, hatte er den Champagner ausgepackt, die Folie abgezogen, das Drahtgeflecht um den Korken gelöst und sich bereit gemacht. Sie war auf die Toilette gegangen und hatte sorgfältig den Koffer abgewischt. Es durfte keine Spur von Blut daran sein, wenn sie ihn öffnete. Dann kam sie heraus, sie küssten sich kurz, bevor sie den Aktenkoffer auf den Tisch legte, neben die Champagnergläser. Er hielt die rechte Hand in einem festen Griff um den Champagnerkorken und war bereit.
Sie schlug den Kofferdeckel zurück.
Keine Geldscheinbündel. Nicht eine Münze.
Nur ein Schlüssel und ein Funkgerät in je einem Halter.
Der Champagnerkorken knallte von selbst. Er traf den Flurspiegel, der zersplitterte. Sieben Jahre Unglück. Wie um den Job zu Ende zu bringen, warf er die Flasche in den Spiegel. Die Nachbarn klopften an die Decke.
Er weinte.
Aber sie dachte.
Sie war schon dabei, weiterzudenken. Das war immer ihr einziger Verteidigungsmechanismus gewesen.
Sie hob den Schlüssel aus dem kleinen Halter, drehte und wendete ihn. Er hatte eine eingravierte Nummer.
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