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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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401.
    »Bankfach«, sagte sie. »Fach vierhunderteins.«
    »Bankfach, Scheiße«, jaulte er. »Wo denn, verdammt noch mal? Kiruna, Paris, Guatemala?«
    »Kannst du eine Kopie davon machen?« fragte sie, streckte sich nach Papier und Bleistift und warf sich auf das Bett.
    Seine Verzweiflung verflog. Er sah diese Zielbewusstheit bei ihr, die sie auch hierher geführt hatte. Und die bremste seinen Hang zur Selbstzerstörung. Lenkte sie um. Auf das Konstruktive. Wie schon so oft zuvor.
    »Du weißt, dass ich das kann«, sagte er, wiederaufgerichtet.
    »Kannst du es jetzt tun?« fragte sie, während sie begann, auf dem Papier eine Liste zusammenzustellen.
    »Ja, das kann ich.«
    »Dann fang an«, sagte sie.
    Er nahm den Schlüssel und ging zu der Kleiderkammer, in der er seine Werkstatt eingerichtet hatte. Bevor er die Tür öffnete, sagte er: »Und was tust du da?«
    »Ich versuche, auf all die Städte zu kommen, in denen er seine Geschäfte tätigt. Das ist die einzige Chance.«
    Er nickte und ging in seine kompakte kleine Werkstatt. Sie blieb auf dem Bett liegen und schrieb. So arbeiteten sie die Nacht durch, jeder für sich. Schließlich war beides fertig, der Schlüssel und die Liste. Da endlich konnten sie sich vereinigen. Und wie sie sich vereinigten. Es war, als begegneten ihre Körper sich zum ersten Mal. Alles, was sie in dieser längsten Nacht ihres Lebens mitgemacht hatten, nahm die Form des Begehrens an, die Form der Liebe. Und die Liebe und das Begehren waren identisch.
    Ineinander schliefen sie ein. Vor dem inneren Auge der Frau lief die Liste ab, während sie einschlief. Alle diese Orte mit leicht zugänglicher Wirklichkeitsflucht. Diese endlose Kette von Bedürfnis nach Linderung, nach Ekstase, nach Ausweitung der Sinne. Als reichten die Sinne, die uns geschenkt sind, nicht aus. Als sei ihre Unbegrenztheit nicht unbegrenzt genug. Aber die Nachfrage nach Zustandsveränderung war auch unbegrenzt, und sie machte das Angebot unbegrenzt, und damit war der Kreis geschlossen. Der Kreis des Bösen. Und derjenige, der für das Angebot sorgte, der dafür sorgte, dass der Kreis böse blieb, das war er. Der Kernpunkt. Die Natter. Und sie ist wieder klein. Es ist ein Traum, der immer wiederkommt. Sie kennt ihn auswendig, kennt jedes Detail, jede Nuance, doch sie ist nicht in der Lage, ihn aufzuhalten. Es ist, als müsse der Traum seinen Lauf nehmen. Als müsse er aus irgendeinem Grund seinen Lauf nehmen. Dieses kleine Erwachen mitten im Schlaf. Ein alter, unschuldiger Traum, der unterbrochen wird, der nie mehr wiederkommt. An den sie sich nicht mehr erinnert. An den sie sich nie mehr erinnern wird. Anfangs ist es nur ein Flattern zwischen den Laken. Aber dann sind es die Augen, der Blick, der einem anderen gehört, oder eher keinem, keinem Menschen. Und ihre Beine werden auseinander gezwungen, und sie weiß nicht, was es ist, was da geschieht, versteht nicht, kann nicht verstehen, hat keine Voraussetzungen, um zu verstehen, was es ist, das in sie eindringt, kann nur das Fundamentalste verstehen, und das ist, dass das Vertrauen gebrochen worden ist, dass das Grundvertrauen zerstört worden ist, dass der Mensch, dem sie am meisten in der Welt hätte vertrauen sollen, sie am schlimmsten in der Welt behandelt hat. Und es ist nur der Anfang.
    Es ist nur der Anfang, an den sie sich erinnert. Nur der Anfang ist ein Traum geworden. Der Rest lief wie von selbst. Wurde der tägliche Trott. Der Normalzustand. Ein Zustand, der es mit sich brachte, dass sie sich als erste von den Mädchen löste und zu dem liegenden Jungen ging und auf ihn pinkelte.
    Und alles wegen ihm. Der Natter.
    Und da, mitten im Traum, kommt die Stimme. Die Stimme. Sie wundert sich, dass plötzlich geredet wird in dem Traum, der immer so schrecklich lautlos gewesen ist, aber die Rede drang durch den Traum hindurch, von einem anderen Ort, einem dunklen, dunklen Ort, und es war wahnsinnig, vollständig wahnsinnig, denn als sie die Augen aufschlug und sich endlich im Raum orientiert hatte, hörte sie, dass die Stimme aus dem Aktenkoffer kam.
    Und sie hatte geglaubt, alle Blutspuren seien fortgewischt.
    Die Stimme sagte: »Dies ist eine Mitteilung an dich, der du meinen Aktenkoffer gestohlen hast. Du weißt, dass ich dich fassen werde. Und du weißt auch, was dann passiert. Um ungefähr zu verstehen, bedarf es nur eines Minimums an Phantasie. Doch nicht einmal die bestentwickelte Phantasie reicht aus, es genau zu verstehen. Also gib den Koffer jetzt zurück.

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