Falsche Opfer: Kriminalroman
jeden Fall besser an als Rave, und Mama Cilla versicherte ihm, dass die Veranstaltungsorte alkoholfreie Jugendzentren waren. Als bekäme sie dadurch Extrapunkte von einer Tochter, die ihre Mutter mehr als irgend etwas anderes auf der Welt zu hassen schien. Erst in jüngster Zeit war ihm der Gedanke gekommen, dass es sich vielleicht um Liebe handelte, nicht um Hass; gewisse Blicke, die zwischen Mutter und Tochter gewechselt wurden, ließen das vermuten. Als spielten sie ihm nur etwas vor. Er begriff es nicht.
»Zwölf!« schrie Tova mit ihrer schrillsten Stimme. Waren es nicht die Söhne, die in den Stimmbruch kamen?
»Zwölf«, krächzte der Papagei, der definitiv im Stimmbruch war. Normalerweise hätte es Paul dazu veranlasst, nach einem Pantoffel zu greifen und damit nach der verabscheuungswürdigen Kreatur zu werfen, aber heute war er immun. Er saß unter einer Glasglocke und betrachtete das Geschehen von einem anderen Planeten aus. Es war richtig witzig.
»Elf!« rief Cilla und hörte sich genauso an wie ihre Tochter und der Papagei. »Sag du ihr doch auch mal was, Paul. Sitz nicht einfach nur da wie ein Ölgötze!«
Ölgötze? Gab es die noch? dachte Paul unter seiner Glocke. Er rührte keine Flosse.
Die Tür ging auf, Tova glitt hinaus, Cilla lief hinterher und rief ihr durch die Türöffnung nach: »Wenn du um elf nicht zu Hause bist, dreh ich dir den Hals um!«
Hmm, dachte Paul unter der Glocke. Ist das gute Erziehung? Ist das ein Beispiel für Toleranz und Verständnis?
»Ölgötze!« wiederholte Cilla in Richtung des Geleeklumpens auf dem Sofa, während sie sich den Mantel überzog.
»Ölgötze«, rülpste der stimmbrüchige Papagei.
»Bist du nicht Abteilungsleiterin?« fragte der Ölgötze. »Hat man da nicht normale Arbeitszeiten?«
»Glaubst du, ich betrüge dich?« schrie Cilla. »Glaubst du das? Glaubst du, ich laufe da hin, um mit einem Doktor zu vögeln?«
Der Gedanke war ihm überhaupt nicht gekommen. Jetzt würde er sich festsetzen, das war ihm klar. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Vorübergehend. Er warf einen lüsternen Blick zum Klavier hinüber, das abgeschoben in einer Ecke stand, von allen außer ihm verabscheut. Als Kompensation hatte er der Anschaffung des Papageis zustimmen müssen, ein über viele Jahre beharrlich vorgebrachter, doch abgeschlagener Wunsch.
Am schlimmsten war, dass das Viech sein mittelmäßiges Klavierspiel nachahmte. Ein richtiger Alptraum.
»Nein«, sagte er und schluckte den Rest.
Cilla seufzte schwer und machte eine kleine, versöhnliche Geste. »Tut mir leid«, sagte sie. »Tova macht mich wahnsinnig. Und der Job. Ich muss eben selbst manchmal hin und die Nachtschicht übernehmen. Sonst bricht alles zusammen. Wir gehen auf dem Zahnfleisch, das weißt du doch.«
»Ich weiß«, sagte er. »Geh nur. Mach das Beste draus.«
Ein flüchtiger Wangenkuss. Mehr nicht.
Er blieb noch eine Weile unter der Glocke sitzen. Wartete, bis es sicher war. Dann zerschlug er sie. Ein Schlag, und sie zerbarst. Er ging zum Klavier. Öffnete den Deckel. Setzte sich. Ließ die Fingerspitzen über die Tasten gleiten. Genoss den Augenblick.
Dann spielte er. Eine kleine Wanderung, die er gelernt hatte. Misterioso. Monk. Schöne, seltsame Töne. Er glitt in halsbrecherische Improvisationen ab. Schließlich begann er, mitzusummen. Aber er sang nicht. Soweit war er noch nicht.
Er fragte sich, warum. Aber gerade jetzt nicht. Jetzt spielte er nur.
Statt dessen sang der Papagei. Mit widerlicher Stimmbruchstimme.
Paul Hjelm lachte und spielte weiter.
Aber er sang nicht.
27
E s war Mittwoch morgen. Man könnte es auch etwas drastischer formulieren: Es war der letzte Junimorgen des Jahrtausends.
Jan-Olov Hultin referierte am Mittwoch morgen. Es gab kaum Veranlassung, sich in die Brust zu werfen. Die Ermittlung ging erstaunlich langsam voran. Er fühlte sich noch immer eingerostet.
Hultin saß vorn am Pult und wartete. Währenddessen ging er die letzten Papiere von Brynolf Svenhagens exaltierten Kriminaltechnikern durch. Mehr über Waffen. Eine Liste von Interpol mit Orten, an denen die russischen Izh-7O-3oo-Pistolen in Erscheinung getreten waren; sie war endlos – sie umfasste neben vielen anderen Orte in Bosnien, Kroatien, Serbien, Montenegro.
Außerdem eine Aufstellung darüber, wo die Maschinenpistolen aus dem Diebstahl in Boden vor einigen Jahren gelandet waren. Mehrere waren tatsächlich in rechtsextremistischen Kreisen an verschiedenen Stellen in Europa
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