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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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studiert, dann war ich Detektiv, bald fange ich neu an mit Zoologie. Und du?«
    »Ich bin Krankenschwester.«
    »Dann sag mir mal, wen die beiden Schizos da hinten auf der Bank darstellen - Napoleon und Papst?«
    »Quatsch, seit Jahrzehnten gibt es keine Napoleons mehr. Der rechte ist Michael Jackson, manchmal schmiert er sich mit Schuhcreme ein, um sich hinterher weiß machen zu können.«
    »Ich fand Irrenwitze noch nie lustig«, sagt der Schlangenmensch.
    Ich auch nicht.
    Als der Oberarzt auftaucht, winkt er mich zu sich. »Na, schon was rausgekriegt?« will er wissen. Ich schüttele den Kopf. Anscheinend soll ich nun als Agentin eingesetzt werden.
    Ich nenne den Schlangenmenschen Tristan (bis jetzt ist mir noch für alle ein passender Name eingefallen). Als Student hatte er einem einsamen Wolf - seinem Onkel - in dessen Privatdetektei ausgeholfen, ein lukrativer Nebenverdienst. Als der Wolf plötzlich von einem Auto überfahren wurde, erbte Tristan bereits mit 24 Jahren dieses Detektivbüro, trennte sich für immer von der Mediävistik und begann untreue Ehefrauen oder -männer zu beschatten.
    Nach drei Tagen ist Tristan zutraulich geworden. Ohne daß er über mich etwas Konkretes weiß, beginnt er zu beichten. »Ich habe gar keine Schlangenphobie«, sagt er, »das ist nur ein Trick, damit sie mir meine Ruhe lassen. Ich mag alle Viecher gleichermaßen, für mich gibt es keine bösen und guten Tiere wie in der Fabel, das wäre doch purer Unsinn für einen Zoologen.«
    Wir schweigen lange. Dann sagt er fast herzlich: »Wahrscheinlich hast du - genau wie ich - in letzter Zeit zu viel Streß gehabt.«
    Tristan beginnt mit der Erklärung seiner beeinträchtigten Befindlichkeit: »Der Auftrag kam vom Dachverband europäischer Strickwaren und war, wie fast alle meine Geschäfte, streng vertraulich.«
    Im letzten Jahr waren in Kaufhäusern und Boutiquen Pullover aufgetaucht, die mit ihren Preisen alles unterboten, was bisher an Billigimporten aus Ländern der Dritten Welt auf den Markt gekommen war. Aber im Gegensatz zu jenen Produkten, die an Qualität und Geschmack meistens nicht mit europäischer Ware zu vergleichen waren, handelte es sich hier um Pullover aus reinen Naturfasern, von erlesener Ästhetik und ausgefallener Musterung; handgestrickt, Stück für Stück ein Unikat. In wenigen Wochen war es unter der Jugend Europas ebenso selbstverständlich, die obere Hälfte mit diesen Pullovern zu bekleiden, wie man die untere seit Jahr und Tag in Blue jeans steckte. Man bedenke die gewaltigen Defizite für die deutsche Textilindustrie, und schon kann man sich Tristans Spesenkonto errechnen!
    »Mein Auftrag lautete: ermitteln, wo man solche Pullover herstellt, und anprangern, für welchen Hungerlohn in irgendeinem Entwicklungsland für einen reinen Modeartikel Menschen ausgebeutet werden.«
    Der Oberarzt ist tatsächlich eifersüchtig. »Sie sind doch ein kluges Kind«, sagt er, »lassen Sie lieber die Finger von diesem Verrückten ...« Ich räuspere mich scharf. »Sorry«, sagt er und muß ertragen, daß ich Hals über Kopf davonlaufe. Soll er ruhig wissen, daß mich die Bulimie wieder beutelt.
    Tristans Geschichte ist wunderlich. »Meine Order hörte sich einfach an, aber meine Auftraggeber wußten selbstverständlich, daß die Importware in Hongkong verpackt und etikettiert wurde, daß es aber bisher unmöglich gewesen war, das genaue Ursprungsland in Innerasien auszumachen. Alles, was mit der Fabrikation dieser Pullover zusammenhing, schien ein tiefes Geheimnis zu sein, und auch die in Hongkong üblichen Bestechungsgelder hatten absolut keine Wirkung gezeigt.«
    Also machte sich Tristan auf den Weg nach Hongkong. In seinem Bericht hielt er sich lange mit sinnlichen Eindrücken auf - dem Geruch von Garküchen, menschlichem Schweiß und anderen intensiv riechenden Ausscheidungen, dem Gehupe der Wagen, Gezeter der Kulis. Seine Augen wurden müde vom Schauen, die Beine wurden lahm vom Laufen und erst recht der Arm, der ständig Papiere und Geld sicherte.
    Ich wollte den Schlangenmenschen gelegentlich zu mehr Tempo antreiben, aber wenn er einmal angeleiert war, achtete er fast nie auf meine Zwischenfragen. Ich hatte mir angewöhnt, die teuren Layout-Filzstifte mit in den Garten zu nehmen und beim Zuhören mein Tagebuch mit farbenfrohen Linien zu schmücken. Es kam mir allmählich so vor, als ob Tristan in Hongkong das satte Leben aller Touristen geführt hatte, wo blieb das versprochene große Abenteuer?
    Aber

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