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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Verführerinstinkte wecke. Natürlich kann ich auch anders dreinschauen, aber hier in unserer psychosomatischen Privatklinik wird mich so leicht keiner dabei erwischen.
    Unser dackelbeiniger Oberarzt hat ein PygmalionSyndrom, er will mich bilden. Dagegen läßt sich nichts einwenden. Gerade jetzt im Sommer wird er redselig. Ich weiß, daß er einen Grund sucht, im Park herumzulungern, weil er sich nur hier eine Zigarette gönnen mag. Wenn ich auf meiner blauroten Luftmatratze im Halbschatten liege, pflegt er sich leutselig neben mir niederzulassen. Durch sein Gewicht entweicht die Luft zwar nur in langsamen Stößen, aber unter unguten Tönen.
    Mich interessiert ein Neuer. Der junge Mann besitzt die gleiche altmodische Luftmatratze wie ich, was eine absolute Rarität darstellt. Sind doch in diesem Park schicke Deck Chairs, weiße Liegestühle, englische Gartenbänke und grüne Loom-Sesselchen gefällig verteilt und zur allgemeinen Benutzung freigegeben, auch leichte Wolldek-ken, geblümte Kissen und Knieplaids werden ausgeliehen. Aber nur wir zwei haben uns ein kleines nostalgisches
    Privatrelikt hierher gerettet, wir pfeifen beide auf die Zauberberg-Attitüde.
    »Ein schwerer Fall von Schlangenphobie«, sagt der Oberarzt und folgt meinen Blicken.
    Ich muß lachen: »Nun, wenn man Schlangenwärter im Zoo oder Giftabzapfer auf einer Reptilienfarm ist, dann muß man etwas gegen eine solche Phobie unternehmen, obwohl eine vom Arbeitsamt finanzierte Umschulung sicherlich die billigere Lösung ist. Aber hier auf mitteleuropäischem Asphalt kriechen uns wohl schwerlich Nattern entgegen.«
    Ich habe klug gesprochen, bei Männern, die ich nicht mag, gelingen mir lange Sätze (übrigens hatte ich Deutsch als Leistungskurs). Aber mein Mentor schüttelt den Kopf.
    »So simpel ist das nicht«, doziert er, »wenn es so weit geht, daß der Betroffene alle Schlangenabbildungen aus seinen besten Lexika herausschneidet, wenn er sich nicht mehr in einer Menschenschlange anstellen und keine Serpentinen fahren kann und beim Wort >Schlangenlinie< in Ohnmacht fällt - dann ist es höchste Zeit für eine Therapie.«
    Armer Kerl. Ich betrachte ihn - natürlich nicht den Oberarzt - erneut mit Wohlgefallen und Interesse. Wie kann man ihm helfen? Professor Higgins erhebt sich schwerfällig, die Pflicht ruft, die Kippe drückt er im Rasen aus. »Helfen? Da muß ich mir noch etwas einfallen lassen, der mauert total.«
    Der Schlangenmensch liegt immer auf der Seite und liest; ich hatte noch nie Blickkontakt aufnehmen können.
    Wenn es kühl wird, geht er auf sein Zimmer, ohne aufzusehen und andere Patienten oder das Personal zu grüßen. Einmal hat er seine Lektüre liegenlassen, es war ein Biologielehrbuch.
    Schon seit Tagen habe ich mir eine lockere kleine Anspielung auf unseren gemeinsamen Matratzengeschmack überlegt, ein sinnloses Unterfangen. Als er heute an mir vorbeihastet, kommt es dafür spontan und wenig geistreich über meine Lippen: »Hallo!« Immerhin ein ängstlicher Blick seinerseits. »Was für ein schöner Pullover!« sage ich wie zu einem Mädchen, und er lächelt tatsächlich.
    Am nächsten Tag ist es wieder warm, und eine dösigmittägliche Stimmung herrscht im Park. Der Schlangenmensch kommt später als ich und bleibt tatsächlich vor mir stehen. »Wenn du dein Lager nicht gerade unter den Glyzinien hättest ...«:, sagt er vorwurfsvoll.
    Ich verstehe nicht ganz und schaue ins Geäst hinauf. Da oben lauern sie, nun sehe ich es auch, ein Gewirr und Geknäuel, Gewinde und Gekrauche. Mit der Luftmatratze unter dem Arm folge ich ihm in den Schatten seines mit Bierreklame bedruckten Sonnenschirms, der ebenfalls nicht zum hiesigen Inventar gehört.
    »Probier mal«, sagt er und hält mir einen Baumwollpullover hin, ohne Zweifel keine maschinengestrickte Ware, sondern ein Exemplar von großer Schönheit und origineller Farbgebung. Die meergrünen Streifen, die sich frech mit Orange und Rosa abwechseln, sind in Größe und Struktur überraschend vielseitig und lustig angeordnet. Ich ziehe den Pullover über den Kopf, mein flacher Busen kann die Querrippen gut vertragen, der Geringelte paßt wie angegossen.
    »Wenn er dir gefällt, kannst du ihn haben«, sagt der Schlangenmensch. Wir sitzen hübsch getrennt auf unseren Luftmatratzen, ich zupfe Gänseblümchen, er zupft vergeblich an einem Nasenhärchen.
    »Was für einen Job hattest du vorher?« frage ich befangen. Aber das Eis ist beinahe gebrochen.
    »Erst habe ich Mediävistik

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