Falsche Zungen
schließlich verließ der Schlangenmensch doch noch die Millionenstadt. Seine Bestechungsversuche hatten endlich Erfolg gehabt: Er hörte, daß die Pullover nicht mit der Bahn, sondern mit Lkws und bei tiefer Nacht an die Versandfirma ausgeliefert wurden. Tristan gelang es, sich unter leeren Kartons und Säcken, ausgestattet mit Vorräten, in einem der zwei Lastwagen zu verstecken und, von den Fahrern unbemerkt, die Reise in ein unbekanntes fernes Land anzutreten.
»Nach wenigen Stunden taten mir schon alle Knochen weh. Die Säcke boten wenig Komfort zum Liegen, die Straßen waren schlecht. Aber das war nur der Anfang, ich mußte mich wohl oder übel auf eine tage-, ja wochenlange Fahrt gefaßt machen. Wir fuhren ohne Pause, die Fahrer wechselten sich ab. Einer schlief ständig in der Koje. Zum Glück wurde es nach einigen Tagen gebirgig und kühl, denn bei der südchinesischen Hitze hätte mein Wassertank nicht lange ausgereicht. Nach einer Woche Fahrt hatte man mich noch nicht entdeckt, aber ich selbst war ein anderer geworden. Ich hatte ja Zeit zum Nachdenken. Mein Gott, in was hatte ich mich da eingelassen! Lahm an allen Gliedern, hungrig - da ich meine Vorräte streng rationierte
- und völlig gleichgültig gegenüber meinen Auftraggebern. Der Erfolg und das Honorar waren unwesentlich geworden. Fragwürdig kam mir mein bisheriges Leben vor, fragwürdig mein Beruf. Man schickte mich in ein unterentwickeltes Land, ein Entwicklungsland, ein Land der Dritten Welt. Welcher Hochmut hatte diese Begriffe geprägt! Den einzigen Sinn sah ich allerdings in meinem Auftrag, menschenunwürdige Ausbeutung zu unterbinden. Wenn mir das gelingen sollte, konnten mir die europäischen Fabrikanten den Buckel herunterrutschen.«
Tristan ist so sehr zum Geschichtenerzähler geworden, daß er kaum bemerkt, daß sich jetzt täglich ein paar weitere Zuhörer auf unseren Luftmatratzen eingefunden haben. Der liebenswürdige Michael Jackson, die Frau mit der Flugangst (immerhin ist sie die Gattin eines Diplomaten), Zarah Leander und mein Leidensgefährte Kotzebue sitzen artig dabei und staunen.
»Nach zwei Wochen Fahrt gönnten sich die Fahrer einen Tag Rast. Sie stellten die Wagen auf einen abgelegenen
Parkplatz, ohne abzuschließen; man merkte, sie kannten sich hier aus. Alle vier Fahrer stiegen eine Böschung hinunter und verschwanden in einem Wäldchen. Nach kurzer Wartezeit traute ich mich aus meinem Versteck, klaute von ihren Vorräten, säuberte mein Lager, trank ausgiebig aus einem Bach und füllte meinen kleinen Tank, wenn auch mit Herzklopfen. Die Gegend war vollkommen einsam, rauh, gebirgig und von verschlossener Schönheit. In der Ferne sah ich eine Art wilder Ziegen. War ich noch in China oder bereits in einem anderen Land? Schon lange gab es für mich keine lesbaren Schilder und Hinweise mehr.
Als ich in der Ferne die Fahrer auftauchen sah, warf ich mich sofort in Deckung. Sie schienen mich nicht gesehen zu haben, und es gelang mir, von der abgewandten Wagenseite aus wieder in mein Versteck zu kriechen. Die Fahrt ging weiter. Die Berge wurden zum steilen Gebirge, fielen schließlich jäh ab, und nun änderte sich auch das Klima. Es wurde warm.«
Der Oberarzt steht plötzlich vor uns, Tristan verstummt. »Ich störe doch nicht?« fragt der Psychiater und steckt sich eine Zigarette an.
Kotzebue ist mutig. »Doch!« sagt er, was den Arzt aber noch längst nicht zum Gehen bewegt.
»Wenn ihr ein bißchen rückt, kann ich ebenfalls eure Piratenschiffe entern«, sagt er lustig und will tatsächlich als vierter auf meiner morschen Matratze sitzen.
»Vorsicht!« rufe ich, aber da ist es schon passiert. Nun wird es ihm zu hart, er zieht ab, der Preis ist leider hoch. Im Gehen knurrt er den Schlangenmenschen an: »Bei mir kriegen Sie nicht die Zähne auseinander, Herr Mäusel, und hier spielen Sie die Scheherazade!«
Tristan zögert; er möchte mich auf sein blaurotes Sofa einladen, aber wir haben beide Schwierigkeiten mit körperlicher Nähe. Also bleibe ich mit Jackson und Zarah auf hartem Grund.
Tristan fährt fort: »Eines Morgens erwachte ich mit einem unbestimmten Schrecken aus tiefem Schlaf. Wir fuhren nicht. Ich öffnete die Augen und sah über mir die Gesichter aller vier Fahrer. Ernst und wortlos betrachteten sie mich. Ich war wie gelähmt, Todesangst bis in die Fingerspitzen.
Nachdem wir uns gute fünf Minuten angestarrt hatten, begannen die Männer zu lachen. Es war ein gutmütiges, ja kindliches Gelächter, und
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