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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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mich in jenem Au-genblick auch gar nicht. Als ich erfrischt in einem Gästehäuschen erwachte, brachte man mir Reis mit gebratenem Hammelfleisch, Mangos und grünen Tee. War ich Gefangener oder Gast? Konnte ich furchtlos essen und schlafen, oder erwartete mich der Tod? War dieses vorzügliche Essen meine Henkersmahlzeit?
    Bevor ich lange grübeln konnte, holte man mich zur Sightseeing-Tour durch die weitläufige Anlage ab. Wir bestiegen ein Elektroauto und fuhren langsam zwischen Verwaltungsgebäuden, Küchen, einer Färberei vorbei. Kinder zwischen sieben und neun Jahren stürzten aus einem Gebäude.
    Das ist des Rätsels Lösung, fuhr es mir durch den Kopf. Diese Kinder gehen wahrscheinlich in keine Schule, müssen bereits im Vorschulalter stricken lernen und verbringen ihre ganze Kindheit mit eintöniger Arbeit. >Unser Land hat keine Bodenschätzec, bemerkte mein Begleiter, >dafür sind wir reich an Kindern. Früher waren wir ein sehr armes Land. Aber seit wir in den Bergen Schafe züchten und aus der Wolle Pullover herstellen, können wir einen großen wirtschaftlichen Aufschwung verbuchen. < Er lächelte stolz. Ich fragte, was die Kinder hier täten. Alle Schulklassen des Landes verbrächten abwechselnd einige Wochen im Camp. Sie machten Ferien und dürften die Farben der Pullover nach eigenem Geschmack zusammenstellen.
    Wir hielten an einem Gebäude, das ein Laboratorium zu sein schien. Hinter dem ersten Raum, der Mikroskope und mir unbekannte Instrumente enthielt, erblickte ich einen langgestreckten Saal. Dort standen Regale mit flachen, offenen Schubladen. Es brannte ein eigentümliches, künstlich-violettes Licht. Ich trat näher, um einen Blick auf die Schubladen zu werfen. Sie waren mit Sand gefüllt; darin eingebettet steckten Eier unterschiedlicher Größe und Fär-bung. Ohne meine Fragen zu beantworten, ließ man mich wieder den Wagen besteigen.
    Die Anlage war groß. Arbeiter mit Säcken, Elektrokarren mit bunt gefärbter Schafwolle, ein Förderband mit Mist - alles schien durchdacht und sinnvoll, ergab aber für mich keinen Zusammenhang.
    Wir kämen jetzt zum Zentrum, sagte der Forscher, eigentlich dürfe man nur alle zwei Stunden bei Stromabsperrung passieren, aber ich sei ja kein Kind mehr und werde mich vor den elektrischen Drähten vorsehen. Man öffnete uns ein weiteres Tor, das mit plumpen Totenköpfen, Blitzen und anderen warnenden Symbolen gekennzeichnet war. Zu meinem Erstaunen betraten wir aber kein Gebäude, sondern ein riesiges freies Feld, auf dem abgestorbene Bäume wie Kreuze auf einem Friedhof in regelmäßigen Abständen eingerammt waren.
    Beim zweiten Blick gerann mir das Blut in den Adern. Auf jedem toten Baum, in jeder Astgabel lag auf einer Plattform eine Schlange, die gleichsam als lebende Rundstricknadel an einem Pullover arbeitete. Mir stockte der Atem. Der Forscher kostete mein Entsetzen aus, er freute sich von Herzen.«
    Vor uns pflanzt sich ungebeten und lauschend Rainer, der Romanist, auf. »Decamerone«, meint er geheimnisvoll. Er glaubt, daß wir alle - wie er - aus Angst vor Aids hierhergeflohen sind. Dabei konnte er sich sicherlich stets eine sterile Kanüle leisten.
    Kotzebue kapiert weder Anspielungen auf Boccaccio noch auf Handarbeitstechniken. »Schlangen haben keine Hände«, meint er.
    »Typisch Mann«, sagt Tristan, »alle Frauen haben mich sofort verstanden, die wissen eben, was eine Rundstricknadel ist.«
    Ich nicke. Die Schlangen arbeiten mit ihrem geschmeidigen Leib, erkläre ich, Kopf und Schwanz treffen sich als Nadelspitzen.
    Tristan nickt beifällig und spricht weiter: »Ich betrachtete mir nun die Konstruktion genauer. Schlangen der verschiedensten Länge, von daumendickem bis streichholzdünnem Umfang, bewegten sich nahezu geräuschlos und strickten in atemberaubender Schnelligkeit. Über ihnen war ein Schutzdach aus Wellblech montiert, die kreisförmige Plattform bestand aus geflochtenem, luftigem Bast. Um jedes Schlangennest spannte sich ein enges Netz aus Elektrodraht. Unter den Bäumen standen Körbe mit farbiger Wolle. >Die größten Probleme<, erklärte mir der Forscher, >machten uns lange Zeit die Freßgewohnheiten der Schlangen. In freier Natur pflegen sie nämlich nur alle zwei Tage ausgiebig zu speisen und danach fast vierzig Stunden zu schlafen. Für unsere Zwecke war das unmöglich. Durch Zucht und Dressur haben wir erreicht, daß sie jetzt häufig kleine Mahlzeiten zu sich nehmen und dadurch nicht träge werden. < Er sah auf die Uhr. >In

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