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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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durch meine Frau ausgelöst wurde.
    Beim ersten Mal war es vor allem meine Nase, die das Glück witterte. Es waren Ferien, ich lag im Garten und las. Die Sitte meiner Vorfahren, am Sonntagnachmittag Kaffee und Kuchen zu genießen, habe ich stets als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Schließlich essen wir Deutschen ständig zuviel, darüber hinaus neige ich zu Magengeschwüren. An jenem sonnigen Septembertag hatte sich aber meine Frau über alle Anordnungen hinweggesetzt, wohl weil sie von einer Freundin einen großen Korb voller Zwetschgen erhalten hatte.
    Da mein bisheriges Leben weitgehend emotionslos verlaufen war, erschien mir erstaunlicherweise jener Geruch nach frischem Pflaumenkuchen aus lockerem Hefeteig und saftigen blauen Zwetschgen als der erste, bewußt empfundene Glückszustand.
    Allerdings wollte ich auf keinen Fall durch ein übertriebenes Lob erreichen, daß sich nun neue Sitten in unseren Haushalt einschlichen und Fiene am Ende jeden Sonntag backen wollte. Ich aß den köstlichen Kuchen ohne den erwarteten Beifall, den sie mir jedoch in ihrer trotzigen Art unbedingt entlocken wollte. »Schmeckt doch gut?« lobte sie sich statt dessen selbst und sprach von schönen Erinnerungen an Kindergeburtstage, an denen es regelmäßig frischen Obst- oder Streuselkuchen gab, natürlich mit Schlagsahne. Ich mochte davon nichts hören, obwohl meine Verstellung nur bis zu einem gewissen Grad gelang. Zwar fiel ich nicht gierig über den lauwarmen Kuchen her, aber ich aß doch insgesamt vier Stücke, was sie mit einem maliziösen Lächeln zur Kenntnis nahm.
    Ganz ohne Worte konnte sie stets den Eindruck erwecken, als ob sie alles besser wisse. Für dieses gemeine Grinsen hätte ich sie ... Nun, lassen wir das. Als ich meine Frau kennenlernte, trug sie ein blaues Sommerkleid und hatte das goldene Haar hochgesteckt. Ein hübsches Bild, auf das ich hereinfiel, denn leider ergraute ihr helles Haar schon allzu früh. Auch ihre Fröhlichkeit, die mich anfangs verzauberte, ließ mehr und mehr nach, ihr Lachen verstummte. Es dauerte aber lange, bis mir klar wurde, daß wir uns haßten.
    Im Grunde bin ich ebensowenig ein eitler wie ein besonders gutaussehender Mann. Durchschnitt, würde ein neutraler Gutachter feststellen. Als Jugendlicher sah ich lange Zeit viel zu kindlich aus, man hielt mich noch mit Mitte Zwanzig für einen Schüler, aber irgendwann war ich froh, jünger auszusehen als nach tatsächlich gelebten Jahren. Inzwischen ist mir mein Äußeres sowieso nicht mehr wichtig, aber ich möchte doch betonen, daß mein Bauch längst nicht so überlappend ist wie der mancher Altersgenossen, daß ich nie eine nachlässige Haltung angenommen habe, eine Brille nur zum Lesen brauche und mein Haar fast gar nicht schütter geworden ist. Stundenlanges Vor-dem-Spiegel-Stehen war und ist mir fremd, obwohl ich natürlich während meiner Berufstätigkeit darauf achtete, anständig gekleidet und gepflegt zum Dienst zu kommen. Abteilungsleiter haben eine gewisse Vorbildfunktion.
    Noch mit Mitte Vierzig hatte ich keine besonderen Probleme damit, wenn mir meine Fotos vorgelegt wurden. Es gab eine Menge Kollegen, die auf Betriebsfeiern fleißig knipsten, und im Gegensatz zu vielen anderen Mitarbeitern habe ich nie in betrunkenem Zustand junge Sekretärinnen auf den Schoß gezogen und mußte mich hinterher über ein peinliches Foto schämen. Auf manchen Bildern sah ich sogar richtig gut aus.
    Deswegen war es mir anfangs ein Rätsel, daß ich auf Familienfotos stets recht unerfreulich gegen meine Kinder abfiel. Nun ja, sagte ich mir, mit hübschen jungen Mädchen kann ein Mann sowieso nicht konkurrieren. Später, als unsere alte Katze überfahren wurde und die Kinder nur noch an Weihnachten oder gar nicht mehr aufkreuzten, mußte meine Frau mit mir allein vorliebnehmen.
    War es Zufall? Unsere Töchter hatten mich früher gehänselt, wenn ich mich über ein besonders scheußliches Abbild ärgerte: So und nicht anders sähe ich nun einmal aus.
    Das hätte ich sicher hingenommen, wenn ich nicht immer wieder Fotos gesehen hätte, die das Gegenteil bewiesen. Langsam dämmerte es mir, daß meine Frau den Ehrgeiz oder sogar eine sadistische Freude hatte, mich von Mal zu Mal ekliger darzustellen. Das Wort häßlich leitet sich nicht grundlos von Haß ab. Da quoll mein Bauch, der doch im Grunde fast flach ist, auf fast unanständige Weise über die Demarkationslinie, die Adern an den Händen traten wie Regenwürmer hervor, der Hals sah aus wie bei

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