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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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fünf Minuten ist es wieder soweit.<
    Wirklich ertönte bald darauf ein Gong. Wärter erschienen mit Futtersäcken, gleichzeitig wurde der Strom abgeschaltet. Die Schlangen hörten unverzüglich auf zu arbeiten. Beim zweiten Gong begann die Fütterung mit weißen Mäusen, und bei einem dritten Signal erschienen die Kinder, die ich bereits gesehen hatte. Geordnet, in Zweierreihen. Jedes Kind trug eine Zahl am Pullover und begab sich ohne Umschweife zu einer bestimmten Schlange, an deren Blechdach die gleiche Nummer befestigt war. Die Schüler schnitten den baumelnden Wollfaden ab und knüpften eine neue Farbe an das lose Ende. Dies geschah mit großem Ernst und nicht ohne Zögern und Abwägen.
    Es schien, als seien sich die Kinder bei dieser kreativen Handlung einer großen Verantwortung bewußt.
    Der Forscher fragte, ob ich Lust hätte, mir einen Pullover nach eigenem Geschmack stricken zu lassen. Ich nickte beklommen. Er maß meine Größe mit den Augen und wollte wissen, ob ich einen grob- oder feingestrickten Pullover wünsche. Ich entschied mich für einen dicken, und er führte mich zu einer Gruppe molliger Schlangen. Ein grünes Tier mit Goldaugen sollte für mich arbeiten. Ich wählte Farben in Blautönen, ein wenig Naturweiß und Bambusgrün. Der Forscher hielt der Schlange, die geruht hatte, das blaue Wollende hin und schaltete an einem Spezialschalter den Strom ein. Sofort nahm die Strickerin Maschen auf. Als der Wissenschaftler der Meinung war, daß es für meinen schmalen Körperumfang genug war, drückte er auf einen zweiten Schalter, und die Schlange begann zu stricken.
    Leider ginge es nicht ohne Strom, erklärte mein Führer, obgleich es ihm natürlich auch lieber wäre, wenn die Schlangen freiwillig arbeiteten; man experimentiere augenblicklich mit einer Spezies, die ohne Zwang stricken könne. Jetzt bedürfe es aber leider noch dieser rigorosen Maßnahmen: Ein kompliziertes System sorge dafür, daß die Arbeiterinnen keinen Schlag erhielten, solange sie die Strickbewegungen flink und regelmäßig ausführten. Sobald sie aufhörten, erhielten sie empfindliche Stromstöße. Wenn man von den Fütterungspausen absähe, arbeiteten die Tiere ohne Unterbrechung, bis ein ganzer Pullover fertig sei. Dann allerdings durften sie zwei volle Tage schlafen.
    Inzwischen war mein Pullover schon um einige Zentimeter gewachsen, mir graute. Ich bat zurückzufahren. Auf dem Heimweg zeigte man mir noch eine kleinere Halle, in der Frauen mit dem Einnähen von Ärmeln beschäftigt waren. Als wir wieder im Büro saßen, wurde mir schwindlig. Ich machte den Wissenschaftlern die schlimmsten Vorwürfe, KZ der Tiere war noch eine milde Variante.
    Die Forscher fragten gekränkt, ob mir menschliche Ausbeutung lieber gewesen wäre? Im übrigen hätten sie eine Kommission gebildet, die sich mit der Altersversorgung strickender Schlangen befasse.«
    Wir starrten Tristan an. Wieso war er noch am Leben, warum hatte man ihn nicht liquidiert? Der Schlangenmensch sagte, er sei sehr krank geworden und man habe ihn nach seiner Genesung mit dem nächsten Pullovertransport zurück nach Hongkong gebracht. Offensichtlich waren die Tierquäler zu Recht davon ausgegangen, daß ihm kein Mensch seine geheimnisvolle Geschichte glauben werde.
    Ich betrachte den Pullover, den er mir geschenkt hat. »Ist der von dort?« frage ich. Bei Männern, die ich mag, bringe ich meistens keinen kunstvollen Satz zustande.
    Tristan nickt. Wir sind allein, Kotzebue und die Diplomatenfrau haben sich taktvoll davongeschlichen.
    »Und deine Schlangenphobie? Kommt die auch von dort?« frage ich wieder etwas ungelenk.
    Er schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Schlangenphobie. Mein Problem sind die Menschen.«
    Ich verstehe ihn gut, denn mir geht es genauso. Vielleicht sollte ich auch Zoologie studieren.
    Am Abend werfe ich die Tranquilizer ins Klo und mache mich auf den Weg. Das Gebäude, in dem Tristan wohnt, liegt ganz hinten, ich muß den dunklen Park überwinden. Aber ich habe keine Angst mehr vor Kröten, Spinnen und
    Oberärzten. Als ich die Tür seines Zimmers aufreiße, sitzt der Schlangenmensch im Schneidersitz auf seinem Bett und strickt. Weinrot und Türkis, Rosenholz und Apfelgrün, Himbeer und Gold. Mein Gott, wie sehr habe ich mir einen Mann gewünscht, der mir Pullover strickt.
    Der Schnappschuß
    Ich erinnere mich, daß bei mir nur zweimal im Leben das Glück vor der Tür stand: ein wunderbares Gefühl, das seltsamerweise in jedem der beiden Fälle

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