Falsche Zungen
einem schlachtreifen Truthahn, wulstige Säcke hingen unter den Augen, belanglose Fältchen wühlten sich wie tief ausgehobene Gräben durchs Gesicht. Alle diese unvorteilhaften Anzeichen des Alterns wären indes noch als natürlicher Prozeß zu entschuldigen gewesen, wenn Fiene mir nicht durch optische Tricks den Ausdruck großer Beschränkt- oder Gemeinheit angedichtet hätte.
Inzwischen weiß jeder, daß die Fotografie kein objektives Kriterium ist, weil sie durch Selektion und Manipula-tion einen gewünschten Eindruck hinterlassen kann, der keineswegs der Wahrheit entspricht. Nun verfügte Fiene allerdings nicht über ein Fotolabor, wo sie retuschieren konnte, und von digitalen Kameras und computergesteuerten Programmen konnte erst recht nicht die Rede sein; sie mußte einen sechsten Sinn dafür besitzen, in meiner Gestalt und Persönlichkeit die abstoßendste Variante zu erkennen und zum Beispiel meinen offenstehenden Mund im richtigen Moment für alle Ewigkeit zu konservieren.
Fiene besaß keine Fotoalben, sondern Aktenordner, die sie mit Jahreszahlen beschriftete und mit ihren Werken füllte. Ab ihrem fünfzigsten Lebensjahr gab es kaum mehr ein anderes Motiv für meine Frau als mich. Ihr Lebenswerk ist zu einer gigantischen Sammlung menschlicher Häßlichkeit geraten, alle am Beispiel ihres eigenen Ehemanns.
Die Fotos pflegte sie mir weder zu zeigen noch zu verbergen. Da Fiene aber seit dreißig Jahren mit einem Fotoapparat herumschlich, nahm ich im allgemeinen keine besondere Notiz von ihren Aktivitäten. Erst als ich aus einem völlig anderen Grund - ich suchte ein lustiges Jugendfoto für eine Festschrift - einen Ordner nach dem anderen zur Hand nahm, begriff ich das Ausmaß ihrer Obsession.
Von da an konnte ich ihre Gesellschaft nur noch schwer ertragen. Zwar gab es sowieso nicht mehr viele gemeinschaftliche Unternehmungen, aber aus Mangel an Phantasie verhielten wir uns immer noch so, wie es einer langjährigen Partnerschaft zukommt: Wir schliefen im gleichen Schlafzimmer, nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein und machten einmal im Jahr eine Bergtour. Auch da gab es feste Gewohnheiten, die sich nie änderten, denn schon zum zwanzigsten Mal wanderten wir rund um die Cardada.
Es ist nun schon fünf Jahre her, daß meine Frau verunglückte. In jenem Sommer war es besonders heiß, so daß ich in kurzen Hosen aufbrach. Ich wußte durchaus, daß mir Shorts nicht besonders gut stehen, und befahl deshalb meiner Frau, den Fotoapparat zu Hause liegen zu lassen.
Als wir damals transpirierend und keuchend einen Gipfel erklommen hatten, hielten wir eine wohlverdiente Rast. Während ich hinter ihrem Rücken einen Schluck Grappa zu mir nahm, öffnete sie den Rucksack, um die Wasserflasche, Käsebrote und ein Pflaster für ihre wundgelaufenen Füße herauszuholen. Zufällig sah ich dabei, daß sie den Fotoapparat gegen meine Order doch mitgenommen hatte. Ich ärgerte mich so sehr, daß ich nach dem Picknick einen belastenden Beweis ihrer Bosheit erzwingen wollte.
Unrasiert, verschwitzt, mit fettigem Mund, offenem Hemd, zerzaustem Haar und krebsrotem Sonnenbrand war ich sicher ein gefundenes Fressen für ihre Perversion, aber ich wollte es noch auf die Spitze treiben. Am Rand des Abgrunds, der direkt vor unserem Rastplatz lag, pflanzte ich mich auf und urinierte hinunter. Wahrscheinlich konnte sie mich haarscharf im Profil anvisieren, und am leichten Klicken hinter mir erkannte ich, daß sie sich dieses Motiv auf keinen Fall entgehen ließ.
Du willst es so haben, dachte ich, kochend vor Wut. Ich zog das Hemd ganz aus, ließ den Hosenstall offen und kletterte nah am Abgrund herum, als wollte ich Enzian und Edelweiß pflücken. Inzwischen sah ich mit Fienes Augen, daß ich in diesem Augenblick geradezu hinreißend widerlich aussehen mußte. Ohne daß ich hinzuschauen brauchte, hörte ich, wie sie aufstand und mir nachstieg. Es war nicht besonders schwer, sie näher und näher heranzulocken, bis ich mich plötzlich ruckartig umdrehte und mich drohend vor ihr aufbaute. Da ich noch niemals ähn-lich reagiert hatte, erschrak sie maßlos, wich zurück und stürzte ab, ohne daß ich sie auch nur zu berühren brauchte. Zum zweiten Mal im Leben empfand ich so etwas wie reines Glück.
Der Autogrammsammler
Verwechseln Sie mich bitte nicht mit jenen Jägern, denen es völlig egal ist, welche Beute sie ergattern. Wahllos raffen und tauschen sie Autogramme von Filmstars, Politikern, Spitzensportlern, Models, Wissenschaftlern,
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