Falsche Zungen
ergeben in den kleinen Laden.
Da gab es Gartenzwerge, die exhibitionistisch den Mantel aufhielten oder mit dem Dolch im Rücken am Boden lagen; ich erinnere mich an Aschenbecher, die gräßlich zu husten anfingen, sobald jemand daran die Zigarette abstreifte, und sehe vor allem die vielen Händchen vor mir, die an einer Leine baumelten. Er habe beim Einkauf falsch kalkuliert, sagte der unglückliche Verkäufer, und bei weitem zu viele Hände aus Weichplastik geordert; jetzt müsse er sie unter Wert verramschen. Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Zur Überraschung meines Mannes kam ich nicht mit neuen Schuhen, sondern mit einer ekligen und völlig überflüssigen Gummihand nach Hause.
Wer mochte Modell dafür gestanden haben? Die Hand sieht so echt aus, daß man wegen ihrer mangelnden Wärme zusammenzuckt. Ich ordne sie einem taiwanischen Programmierer oder einem japanischen Pianisten zu, denn es ist sicherlich eine Männerhand, allerdings eine sehr feine, elfenbeinfarbene, mit langen Fingern.
Am Tag nach diesem peinlichen Einkauf konnte ich es nicht lassen, das Händchen im Ärmel eines aufgehängten Mantels zu fixieren und damit eine Besucherin zu erschrecken. Auch mein Mann wurde kreativ, ließ die gelblichen Finger unter meiner Bettdecke herausgucken, von draußen ins Klofenster greifen oder, zwischen die Schiebetür geklemmt, eine Zigarette rauchen. Allerdings gelobten wir, das Händchen niemals unter ein Auto zu legen. Freunde baten darum, die Hand mit in den Skiurlaub nehmen zu dürfen, um dort Schabernack damit zu treiben.
Nach einer Weile geriet mein Händchen in Vergessenheit. Aber eines Tages ist es wieder zu Ehren gekommen, weil es vielleicht eine Lungenentzündung verhindert hat. Als ein Fernsehteam einen kleinen Film bei uns drehte, wollte man mich im herbstlichen Garten Blätter zusammenharken lassen, um ganz nonchalant eine Leiche damit abzudecken. Redakteurin und Kameramann sagten einstimmig zum Tontechniker: »Und du machst jetzt die Leiche!«
Der Rasen war naß, die Blätter schmutzig, die Erde ausgekühlt, der arme Mann dauerte mich. Als mir die Erleuchtung kam, waren alle zufrieden: Pars pro toto. Das Händchen ragte täuschend echt unterm Blätterhaufen hervor, und ich ließ es dort liegen. Der Frühlingswind brachte es leider wie neugeboren wieder an die Oberfläche, denn es gibt Dinge im Leben, die trotzen dem natürlichen Verfall und werden niemals der Erde gleich.
An Elise
Warum leben?
Als Du vor wenigen Monaten geboren wurdest, waren wir viele hundert Flugkilometer voneinander entfernt. Du bist jetzt zum vordersten Glied einer langen Kette geworden. In dritter Position stehe ich, strecke den linken Arm nach hinten, um meine 99jährige Mutter mit den Fingerspitzen zu berühren, und den rechten nach vorn zu meinen Kindern und zu Dir, meiner ersten Enkelin. Wen wirst Du einmal an Deinen jetzt noch winzigen Händchen halten, wenn Du so alt bist wie ich?
Zum Millenniumswechsel erhielt ich die Aufforderung, eine persönliche Botschaft an die Zukunft zu schreiben, Mitteilungen an das nächste Jahrhundert. In einem luftdicht verschweißten Edelstahlcontainer wurden bis zu 40000 verschlossene und adressierte Briefe aus der ganzen Welt in den Untergrund versenkt, die nach 100 Jahren wieder gehoben und an die Adressaten ausgeliefert werden sollen. Manche Briefschreiber wählten als Ansprechpartner wohl Politiker oder andere Persönlichkeiten, die vielleicht in hundert Jahren das Sagen haben werden, wie etwa Führungskräfte der Industrie, Päpste oder Präsidenten. Für mich kam das nicht in Frage, ich schrieb - wie sicher viele Frauen - an die eigene Brut. Politik, Wirtschaft, Kultur und Technik unserer Zeit habe ich ausgespart, das alles kann man ja nachlesen. Falls ich selbst Post von einer längst verstorbenen Urahne bekäme (nicht jeder findet schließlich so schöne Briefe wie die von Frau Aja im Nachlaß seiner Verwandtschaft), dann tät’s mich freuen, und ich würde vor allem wissen wollen: Was war das für eine? Hatte sie die gleichen Sorgen wie ich? Bin ich ihr ähnlich? Wie sah ihr Alltag aus?
Bevor ich auch nur eine Zeile des Zukunftsbriefs geschrieben hatte, überkamen mich jedoch Zweifel. Es gab in diesem Augenblick so viel Aktuelleres zu tun, es warteten Freunde und Bekannte auf ein Lebenszeichen, ein Berg an Bürokram war zu erledigen, ein neuer Roman erst zur Hälfte fertig. Von diesem Brief an die Ungeborenen eines anderen Jahrhunderts konnte ich persönlich eigentlich
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