Falsche Zungen
schließlich hatte sie als Mutprobe einen Aasgeier an das Finanzamt ihrer Heimatstadt gesprüht. Da sie noch nie eine gute Zeichnerin gewesen war, hatte sie monatelang dafür üben müssen.
»Und jetzt?« fragte ich gespannt.
»Es hat mich viel Mühe gekostet, Ihre Telefonnummer ausfindig zu machen«, sagte sie. »Meine Aufgabe ist nun, Ihnen meinen selbstgeschriebenen Kriminalroman vorzulesen. Und zwar bei Ihnen zu Hause.«
Was soll man machen? Nun hat Frau Jemand bereits drei Prüfungen mit Auszeichnung bestanden, soll sie ausgerechnet an mir scheitern? Ihr Kriminalroman ist sehr dick, sie wird jedes Wochenende auf unserem Sofa sitzen und vorlesen, monatelang. Wenn ich nun eine Moorleiche geworden wäre, käme ich unwiederbringlich nicht in diesen Genuß.
Siehst Du, Elise, es gibt unterschiedliche Gründe, warum ich noch lange auf der Welt bleiben möchte, das Leben selbst mit heiteren, bewegenden, erkenntnisreichen und auch schmerzlichen Situationen ist durch nichts zu ersetzen. Außerdem bist Du ein ganz wichtiger Grund für mich: Ich möchte mit Dir Freundschaft schließen und sehen, wie Du größer wirst, wie Du laufen lernst, lachst und weinst. Ich möchte mit Dir Bilderbücher betrachten und Dir Geschichten vorlesen. Wenn Du erwachsen bist und längst selber lesen kannst, werde ich - inzwischen uralt -Dir ein Gedicht von Matthias Claudius auf den Nachttisch legen: Es wurde vor etwa 200 Jahren geschrieben.
Der Mensch
Empfangen und genähret Vom Weibe wunderbar,
Kömmt er und sieht und höret Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr;
Erbauet und zerstöret Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst und zehret;
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
Wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder, Und er kömmt nimmer wieder.
Weihnachten in China
Meine Eltern hatten es gewiß nicht leicht, Jahr für Jahr ein Gewächs aufzutreiben, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Tanne aufwies; im allgemeinen wurde das Problem durch einen Lebensbaum gelöst. Wenn man im Ausland lebt, sollen die Traditionen der Heimat ja nach Möglichkeit erhalten bleiben. Andererseits feierten wir Kinder mit Begeisterung das chinesische Neujahrsfest, ließen die Knaller krachen und futterten mit unseren Dienstboten spiralförmige Krapfen und Sesamgebäck. Es war uns durchaus wichtig, welches Geschöpf des Tierkreiszeichens als nächstes an die Reihe kam. Meine Geschwister ärgerten mich oft, weil ich im Schweinejahr geboren wurde; erst als wir 1949 nach Deutschland kamen, erfuhr ich, daß hier das Sternbild der Waage für mich zuständig sein sollte.
Unser großes Haus in Nanking hatte nur einen einzigen Raum, den man im Winter beheizen konnte; dort hatten wir Schule bei unserer Mutter, dort wurde an kühlen Tagen gegessen, und hier thronte auch die kleine Weihnachtskonifere auf einem über Eck gestellten Schreibtisch. Unter diesen Tisch pflegte ich mich zu verkriechen, um in Ruhe zu lesen und Betrachtungen über die dürftig geschmückte Rückseite des Baums anzustellen. Nach und nach ließ ich alle Glanzstücke der Vorderseite - Sonne, Mond und Sterne - zu mir nach hinten wandern. Unsere
Mutter besaß nostalgischen Christbaumschmuck, den sie wie ihren Augapfel hütete. Die bunten Kugeln waren zwar ausgegangen, dafür gab es aber gläserne Eiszapfen und viele Laubsägefigürchen: Teddys, Schlittschuhläufer, Ni-koläuse, Rotkäppchen. Außerdem musizierende Engel sowie Lametta in Hülle und Fülle.
Die Geschenke waren in der Regel second hand und stammten von europäischen Familien, die ihre alten Spielsachen auf Basaren verkauften. Heimlich träumten wir zwar von Rollschuhen oder Blockflöten, lasen aber Bücher aus dem 19. Jahrhundert und spielten mit antiken Gliederpuppen und chinesischen Porzellanfiguren, die wir Shirley Temple, Herr Wang, Heidi, Momotaro und Frenchtown tauften.
Die Rezepte für die Weihnachtsbäckerei stammten von meiner Großmutter. Unser Boy brachte die Zutaten ins Winterzimmer, auf dem Eßtisch wurde geknetet und gewalkt, gerollt, gestochen, glasiert und genascht. Für meine Schwestern und mich war es ein besonderes Vergnügen, wenn wir aus den Resten winzige Plätzchen für Shirley Temple, Momotaro & Co zubereiten durften. Bei der Arbeit trugen wir mehlige blaue Schürzen, die
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