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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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nicht profitieren. Wenn er geöffnet würde, wäre ich längst gestorben. Die Adressaten könnten vielleicht Deine Kinder sein, falls Du nicht hundert Jahre alt wirst und meinen Brief mit zittrigen Händen selbst öffnen kannst. Ist es nicht purer Luxus, an Urenkel zu schreiben? Und am Ende völlig sinnlos, weil sie vielleicht gar kein Deutsch verstehen oder weil es sie schlimmstenfalls überhaupt nicht gibt? Wie viele werden es sein, wo werden sie leben? Ist meine Zeit nicht viel zu schade, um mich mit derart unsicheren Kandidaten herumzuplagen? Kommt nicht der Alltag immer an erster Stelle? Täglich muß das Leben weitergehen - und das heißt: im Beruf stehen und Geld verdienen, Kochen und Einkaufen, Schlafen und Essen, Auf stehen und zu Bett gehen, Schauen, Hören, Reden, Nachdenken.
    Das Theaterstück von Thomas Bernhard Macht der Gewohnheit handelt von einem Zirkusdirektor, der seit 22 Jahren mit vier seiner Untergebenen Schuberts Forellenquintett erfolglos probt. Inzwischen hassen die Musiker dieses Stück mitsamt ihrem Chef, sie hassen ihre Instrumente, sie hassen letztlich ihr sinnloses Leben. Aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, es muß geprobt, es muß gelebt werden.
    Mit einem derartigen Haß im Kopf, jedoch ohne Liebe zu unserer Familie, zu Partnern, Freunden und zu uns selbst kann das Leben nur sehr mühsam bewältigt werden. Für mich gehören sowohl die Verstorbenen als auch die Ungeborenen zur Familie und werden mit liebevollem Respekt behandelt, so daß ich trotz aller Einwände einen Brief an Deine künftigen Kinder geschrieben habe.
    Dabei hast Du mich fast auf dem Gewissen, kleine Elise! Kurz vor Deiner Geburt habe ich Deine Eltern besucht. Sie freuten sich auf Dich und waren in allerbester Laune. Auf dem Markt kaufte Deine hochschwangere Mutter lauter kleine wuselige Schildkröten. Sie hatte die geniale Idee, die Tiere aus der Gefangenschaft zu erretten, wieder zurück in den Mekong zu werfen und ihnen lauter gute Wünsche für Dich mitzugeben. Gesagt, getan: Dein Vater und andere junge Leute liefen leichtfüßig und flink ans Ufer, um die Befreiungsaktion zu starten. Leider bin ich weder leichtfüßig noch flink, und das Unheil nahm seinen Lauf. »Schneller, schneller!« rief man mir zu, aber schon sank ich mit beiden Beinen im Schlamm ein, tiefer und tiefer, verlor die Schuhe, kam mir vor wie Rumpelstilzchen, das sich am Ende selbst mitten entzweireißen muß.
    Nun, wie Du siehst, wurde ich lebend geborgen. Schade, daß ich deshalb nicht tausend Jahre später als Moorleiche im Museum ausgestellt werden kann; dank helfender Hände und hölzerner Planken bin ich um den Genuß einer gewissen Unsterblichkeit gekommen, denn durch das Schreiben von Kriminalromanen habe ich sicherlich keine Chance, der Menschheit im Gedächtnis zu bleiben. Mein Abenteuer am Mekong war vielleicht ein wenig gefährlich, aber sehr lustig; ich möchte es nicht missen.
    Genaugenommen bringt mir fast jeder neue Tag etwas Einzigartiges, aber die beschaulichen Erkenntnisse werde ich jetzt nicht aufzählen, denn Du möchtest lieber von weiteren Abenteuern hören.
    Weißt Du, was ich gestern erlebt habe? Als das Telefon klingelte, rief mich mein Mann - Dein Opa - und sagte verschmitzt: »Jemand möchte dich sprechen.«
    Ja, wer denn? Er lächelte nur, und erwartungsvoll übernahm ich den Hörer. Waren es Deine Eltern? Oder gar Du selbst, weil sie Dich ans Telefon hielten und brüllen ließen? Es konnte aber auch sein, daß der Jemand eine rechte Nervensäge war und der heitere Gesichtsausdruck meines Mannes pure Schadenfreude bedeutete.
    »Jemand«, sagte jemand, als ich mich meldete. Kam mir diese Frauenstimme bekannt vor?
    »Wer?« hakte ich nach.
    »Ich bin Gudrun Jemand«, sagte sie, »Sie kennen mich nicht!«
    Frau Jemand trug mir ihr Anliegen vor. Seit Monaten nahm sie an einem Selbsterfahrungskurs teil, den ein Eskimo leitete. Nein, kein Psychologe, beantwortete sie meine Frage, ein echter Inuit mit fast übernatürlichen Fähigkeiten, von denen ein akademisch ausgebildeter Therapeut nur neiderfüllt träumen könne. Der Inuit habe ihr zur Stärkung des Selbstbewußtseins verschiedene Aufgaben gestellt, die sie bis jetzt alle bravourös gelöst habe. Zum Beispiel hatte sie ihre gesamten Ersparnisse zusammengekratzt, um an einer Hundeschlittenexpedition teilzunehmen, hatte argentinischen Tango erlernt und - leider ohne Partner - in der Fußgängerzone von Dormagen den Passanten einen Beweis ihres Könnens gegeben;

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