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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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sollen, ob es die richtige ist?« brüllte sie.
    Mit offenem Mund hörte sie am Ende doch noch zu, wie ich ihr die Situation vor Augen führte: Ein ungarisches Zimmermädchen, das weiß Gott nicht viel verdiente, wollte nur mal den teuren Mantel der Deutschen anziehen und vor dem Spiegel feine Dame spielen. Diese kleine Sünde mußte sie mit dem Leben bezahlen. Bei dieser Vorstellung zerfloß Jennifer auf einmal in Tränen.
    Als ich zurück in unser Zimmer kam, sagte Marina: »Der Portier war gerade hier und hat mir meine Sachen gebracht. Vielleicht glaubte diese durchgeknallte Piroschka, das Cape verleihe ihr Batmans Fähigkeiten. Mein Mantel ist völlig hin, aber seltsamerweise ist die Kette heil geblieben. Trotzdem werde ich sie nie mehr tragen. Perlen bedeuten Tränen, also bringen sie Unglück; am Ende falle ich auch noch aus dem Fenster oder gar ins Wasser.«
    Gute Idee, dachte ich, als nächstes werden wir es mit der Donau versuchen.
    Inzwischen liegt Marina längst auf dem Friedhof und Jennifer von früh bis spät in unserem Doppelbett. Vielleicht hätte ich ihr die Kette doch nicht schenken sollen, denn Marinas Perlen haben tatsächlich Unglück gebracht. Erst nach der Hochzeit kam ich dahinter, daß auch meine zweite Frau unter scheußlichen PMS-Schüben leidet und zwecks Behebung ihrer schlechten Laune zur Flasche greift. Wenn sie richtig blau ist, trällert sie rülpsend den Donauwalzer.
    Annika
    Gegen einen gewissen Kalauer bin ich allergisch, denn jeder meiner bisherigen Freunde meinte, ihn erfunden zu haben. Schon mein Stiefvater witzelte, als ich eine Klassenkameradin mit nach Hause brachte: »Und das ist also Pippi Langstrumpf!«
    Meinen Vornamen Annika verdanke ich - wie sollte es anders sein - meiner Mutter, die 1974 als Au-pair-Mädchen nach Schweden ging. Aufgewachsen in einem hinterwäldlerischen Pfarrhaus, hatte sie wohl bis zum Abitur wie in einem vergangenen Jahrhundert gelebt, obwohl sie das bestreitet. Jedenfalls bekam sie von meiner Oma keine Pillenpackung mit auf den Weg, sondern einen Koffer voller Monatsbinden. Was Wunder, daß sie die Hälfte des Vorrats wieder mit nach Hause schleppte und zusätzlich noch ein kleines Souvenir. Die Überlegung ist müßig, ob ich eine spanische Anita oder eine slawische Anuschka geworden wäre, wenn Mutter mich aus einem anderen europäischen Land importiert hätte.
    Für den schüchternen Tommy, der Kalauer haßt, begann ich mich erst dann zu interessieren, als er mir sozusagen ein Ständchen brachte. Rein äußerlich hätte er mich wohl kaum beeindruckt, denn Tommy ist ein rotblonder Typ und hat mit seinen 33 Jahren bereits einen gelichteten Haaransatz. Auf der Geburtstagsfete einer Kollegin, die im
    Stil der fünfziger Jahre gefeiert werden sollte, erhielt er bei kindischen Pfänderspielen eine peinliche Aufgabe. Tommy wurde rot und wußte nicht, was er singen sollte. Passend zum Motto des Abends riet man zu den CapriFischern, statt dessen wählte er aber ein Lied, das wahrscheinlich ein paar hundert Jahre älter ist. Bei seiner schamhaft dargebotenen Solonummer schaute er immer nur mich an. Sein »Ännchen von Tharau« trieb mir fast das Wasser in die Augen, ich hätte meinen schwedischen Namen am liebsten eingedeutscht.
    Am Sonntag nach der Party lag ich leicht verkatert auf einer Wiese im Englischen Garten und döste gen Himmel. Über mir sammelten und ballten sich weiße Sommerwolken, nahmen Gestalt an und formten Tommys Gesicht; skrupellos griff ich nach dem nächstbesten Gänseblümchen. Das Orakel war eindeutig.
    Als ich innerlich beschlossen hatte, mich in ihn zu verlieben, ging ich sofort in die Offensive und sorgte dafür, daß er am nächsten Sonntag neben mir im Gras lag. Natürlich ist es immer etwas umständlich, einen scheuen Mann aus der Reserve zu locken.
    »Du siehst aus wie ein Ire«, sagte ich, während ich zählend auf seine Sommersprossen tippte.
    Tommy lächelte. »Dich würde man auch nicht für ein Münchner Mädel halten!«
    »Kunststück, mein Vater ist Schwede«, sagte ich.
    »Meiner auch«, sagte er.
    »Meiner heißt Gunnar Ottoson«, fuhr ich fort.
    »Meiner auch«, wiederholte Tommy, und wir starrten uns mißtrauisch an. Sahen wir uns etwa ähnlich? Ganz im
    Gegensatz zu mir wußte Tommy, daß sein Vater in Göteborg lebte.
    Am Abend rief ich meine Mutter an.
    »Wo wohnt mein Papa?« fragte ich vorsichtig, denn dieses Thema war schon immer ein großes Tabu in unserer Familie. Jedesmal, wenn ich Näheres über den

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