Falsche Zungen
unser chinesischer Schneider liebevoll mit einer Osterhasenbordüre versehen hatte.
Das ewige Geschrei unserer Mama, alle acht Kinderpfoten seien zu schmutzig und die Unmengen des stibitzten Teiges hätten einen ganzen Korb voller Gebäck ergeben, habe ich später beim eigenen Nachwuchs übernommen. Wenn alle Kekse adrett auf dem Blech lagen, wurde dem Boy erneut geläutet. Er brachte den ganzen Segen in das Küchenhäuschen, wo der Koch für das eigentliche Backen die Verantwortung übernahm. Er hätte für immer sein Gesicht verloren, wenn die Missi ihn in seinem Reich kontrolliert hätte.
Fast jedes Jahr gab es am 25. Dezember eine gebratene Gans. Sie war uns immer persönlich bekannt, denn sie lebte zuvor im Garten und wurde gemästet. Die Weihnachtsgänse, die stets Babette hießen, waren aggressive, laut schnatternde Ganter. Wiederholt wurde ich in die Waden gebissen, und bis heute habe ich Angst, wenn so ein großer Vogel mit langgestrecktem Hals auf mich zuspurtet. Bei den anderen Haustieren wäre mir ein Ende im Backofen fatal gewesen, aber bei den Babetten empfand ich reine Schadenfreude.
Den Sommer 1946 verbrachten wir in den Bergen, weil sich mein Vater von einer schweren Tropenkrankheit erholen mußte. Auch ich sah wohl nach vielen Malariaschüben wie ein kleines Gespenst aus. Da uns die Höhenluft in Kuling so guttat, beschlossen meine Eltern, auch den Winter dort zu verbringen. Zum ersten Mal im Leben staunten wir Kinder über die Exotik verschneiter Tannen. Rodeln ohne Schlitten? In der Nachbarschaft gab es verlassene Häuser, die mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben waren. Dort entwendeten wir Klodeckel, auf denen man hervorragend die Hügel hinuntersausen konnte.
Weihnachten rückte heran, aber der Koffer mit dem Christbaumschmuck fehlte. Unser Bruder schnitzte Pilze aus Lindenholz, die ich rot anmalte. Wir Schwestern vergoldeten Nüsse, falteten Sterne und zerschnitten Papas Zigarettenpapier zu möglichst langen Silberstreifen. Unsere Mutter hatte einen Adventskalender gebastelt, für jedes Fenster dichtete unser Vater einen Knittelvers. Allerdings kam mitunter keine Heiterkeit auf, wenn er seine Kinder in gereimter Form ironisch aufs Korn nahm. Wahrscheinlich hielt man es auch für eine besonders clevere pädagogische Masche, wenn der Nikolaus in den aufgestellten Schuhen nicht nur Süßigkeiten, sondern auch Anzüglichkeiten in
Form von Nagelbürsten, Lateinbüchern und Waschlappen hinterließ. Meine arme Schwester litt noch lange unter einem roten Kamm mit feinen Zinken.
Meine Sternstunde sollte am 23. Dezember kommen.
Wenn es nun endlich einmal Tannen satt gab, so sollte es diesmal kein Bonsai werden. Unser Bruder war schon sechzehn, und man betraute ihn mit der verantwortungsvollen Aufgabe, einen besonders ebenmäßigen Baum ausfindig zu machen, zu fällen und heimzutransportieren.
Nach vielen Stunden, in denen meine Eltern zu verzweifeln drohten, kehrte Lederstrumpf von seiner Expedition zurück. Er hatte sich lange nicht für den schönsten Baum entscheiden können, denn die Natur kennt keine Perfektion. Also kletterte er schließlich auf das größte Exemplar weit und breit und sägte die kerzengerade Krone ab.
Als der erschöpfte Holzfäller mit einer etwa sechs Meter hohen Tanne im Schlepptau durch hohen Schnee nach Hause gestapft kam, wurde er nach diesem Kraftakt auch noch gerüffelt, denn unser Christbaum mußte immer wieder um ein Stück kürzer gemacht werden. In jeder Ecke stolperte man über harzig duftende Zweige, an allen Schuhen klebte Sägemehl. Aber letztlich tauchte die entscheidende Frage auf: Wie soll man den Kaventsmann bloß in die Vertikale zwingen? Stundenlang debattierten Vater und Bruder über statische Theorien, vergeblich experimentierten sie mit primitiven Gestellen aus gekreuzten Balken, Haken an der Decke oder Eimern voll Sand. Auf das elfjährige Mädchen, das stumm dabeistand und gaffte, achteten sie überhaupt nicht.
Vor wenigen Tagen hatten wir einen größeren Vorrat an sorgfältig gebündeltem Brennholz erhalten: Die senkrecht gestellten Scheite wurden durch Blechbänder zusammengehalten, so daß die standfeste Konstruktion wie eine überdimensionale Trommel aussah.
»Man könnte doch ein paar Holzstücke aus der Mitte herausziehen und unseren Christbaum in die Lücke stecken«, schlug ich vor. Vater und Bruder hielten mit ihrem Ge-murkse inne und schauten mich sprachlos an. Schließlich meinte mein Papa: »Es könnte funktionieren«, und
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