Falsche Zungen
und seltsame Ersatzprodukte mit Osterhasen- und Pagodenmuster oder Einkaufstüten müssen herhalten. Jedesmal nehme ich mir vor, beizeiten einen Vorrat an rotem und grünem Krepppapier zu bunkern. Die überaus schmucken Päckchen lagern schließlich unterm erleuchteten Baum, und nach Glöckchengebimmel beginnt die Zeremonie der stundenlangen Bescherung. Unsere Tochter hat den Part der Verteilerin übernommen. Das Radio ist inzwischen zu jauchzet, frohlocket übergegangen, und wir jubeln synchron, wenn ein Geschenk nach dem anderen ausgepackt wird. Keiner darf sich heimlich über die eigenen Sachen hermachen! Auf diese Weise wird die Spannung so lange gehalten, bis sich der Papierberg hoch aufgetürmt hat und auf einmal lüsterne Gedanken an den Gänsebraten aufkommen.
Es riecht schon köstlich! Plötzlich bieten sich hilfreiche Hände an, den Tisch zu decken. Die Söhne wuchten die schwere Holzplatte aus dem Keller, aus dem ganzen Haus werden Stühle eingesammelt. Weihnachten hat ja mit rot und grün zu tun, also kommt das übergroße rote Damasttuch auf unsere verlängerte Tafel, die Servietten sind grün, Mistel- und Ilexzweige bilden ein zierliches Oval. Die knusprige Gans glänzt im Schein der Kerzen, bald strahlen auch unsere Gesichter.
Seit mein Mann Rentner ist, liest er nicht nur mit Begeisterung Kochrezepte, sondern kocht auch immer öfter und immer feiner. Am vergangenen Weihnachtsfest stellte er nach dem altehrwürdigen Festmahl seiner ostpreußischen Ahnen eine unerhörte Frage: »Sollten wir vielleicht im nächsten Jahr die Gans auf provenzalische Art zubereiten?« Fassungslos blickte ich in die Runde. Betretenes Schweigen. Die Partner unserer Kinder enthielten sich bei einem derart delikaten Thema klugerweise ihrer Meinung. Die Mienen der eigenen, sonst so innovativen Brut spiegelten pure Mißbilligung wider; schließlich machte sich der Älteste zum Sprecher: »Keine Experimente, bitte!«
In meiner Kindheit gab es noch wohlgemeinte Geschenke wie lateinische Wörterbücher und feingezinkte Kämme, die nichts als Unmut auslösten. Um das zu vermeiden, wollten wir es bereits vor vielen Jahren bei den eigenen Kindern besser machen. Aber was spricht dagegen, einem lesefaulen Knaben ein unerhört spannendes Buch zu schenken? Er glaubte nicht an meine anpreisenden Worte, und um ihn zu überzeugen, las ich den Anfang vor. Immer noch nicht war das listige Kind gefesselt, ich las auch das zweite Kapitel. Na ja, und so weiter.
Nach diesem Mißerfolg haben wir versucht, nur noch Herzenswünsche zu erfüllen wie etwa Meerschweine, Barbie-Schuhe, Tomahawks und Saxophone.
Je älter die Menschen werden, desto weniger brauchen sie. Meine Mutter möchte gar nichts geschenkt bekommen, denn sie kann ihrerseits nicht mehr einkaufen gehen und andere beglücken. Trotzdem wird sie nicht übergangen, und wenn sie bei jedem neuen Päckchen schimpft: »Aber ich habe euch doch verboten ...«, kommt unweigerlich die Antwort: »Das ist wirklich kein Geschenk, sondern nur ein Mitbringsel!« Um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, erhält sie bloß Dinge zum raschen Verbrauch - Königsberger Marzipan, Usambaraveilchen oder ein dickes Rätselheft.
Auch mein Mann und ich werden immer bescheidener in unseren Wünschen, denn wir leiden längst unter einem vollgestopften Haus. Aber ganz ohne gegenseitige Überraschung? Niemals.
Dabei ist es besonders schwer, Männer zu beschenken. Leichter tut man sich mit Sammlern. Bei uns tickt es in allen Ecken, denn mein Mann liebt alte kaputte Uhren. Seit er keine Patienten mehr behandelt, muß er wenigstens andere Invaliden wieder heil machen.
Weihnachten hat zwar viel mit Gänsen, aber auch in einer konfessionslosen Familie mit Liebe zu tun. Unser Haus ist offen, da kommen Freunde mit ihrem Nachwuchs, da fei-ert schon mal die polnisch-jüdisch-australische Schwiegermutter unseres Sohnes fröhlich mit. Christstollen, frisch bezogene Matratzen, erahnte und erfüllte Wünsche - das bedeutet ja letzten Endes: Wir haben uns Mühe für euch gegeben, wir haben nachgedacht, was euch erfreuen könnte, wir nehmen uns Zeit füreinander. Unsere Kinder bringen selbstgebackene Plätzchen mit, gerahmte Fotos, eigene CD-Aufnahmen und als Krönung des Selbstgemachten eine kleine Enkelin.
Traditionen geben Sicherheit und Geborgenheit in der heutigen Zeit, in der Familien zunehmend auseinanderbrechen. Vier Generationen unter einem Dach, das wird immer seltener. Sollte es indes nur an der Zubereitungsart
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