Falsche Zungen
es stimmte.
Noch nie zuvor war ich so stolz über ein Lob meines Bruders wie damals. »Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst«, sagte er.
Gans en famille
In meinem Elternhaus gab es am 25. Dezember den obligaten Gänsebraten und am Heiligabend die sogenannten Delikatessen. In den fünfziger Jahren verstand man darunter hartgekochte Eier mit einigen Krümeln falschem Kaviar sowie Fleischsalat vom Metzger. Nur die Konservativen mußten partout alles selbst zubereiten, wer modern sein wollte, kaufte Fertiges vom Profi, denn das Wort Junkfood war noch unbekannt. Als ich meinen späteren Mann kennen- und lieben lernte, stellte er mir schon früh die Gretchenfrage: »Was gibt es bei euch am Weihnachtsabend zu essen?« Seine Mutter brachte nämlich die Gans nach bewährtem Rezept mit viel Majoran auf den Tisch und war damit aller weiteren Pflichten entbunden, denn am nächsten und übernächsten Tag wurden die Reste aufgewärmt. Ich war entsetzt, denn ich konnte mir den Heiligabend ohne Delikatessen nicht vorstellen. »Baum schmücken, Haare waschen, festlich anziehen, Bescherung und die Gans braten - alles an einem einzigen Tag! Kommt für mich nicht in die Tüte!« Ganz wie du willst, sagte mein Mann, dann würde eben nichts aus unserer Hochzeit.
Seit 42 Jahren bin ich jetzt verheiratet, und seitdem spielt eine riesige Gans am 24. Dezember die Hauptrolle, gefüllt mit Kastanien, begleitet von Hefeklößen und Rotkohl. An einem einzigen Abend wird sie von neun bis zwölf Leuten ratzeputz aufgegessen, denn unsere Kinder würden uns niemals mehr die Ehre ihres Besuchs erweisen und mein Mann würde sich scheiden lassen, falls ... Beim Abnagen ihres Flügels sagt meine Mutter jedesmal überwältigt: »So eine gute Gans hatten wir noch nie!« Manchmal träume ich von einem Christfest auf einer exotischen Insel, wo statt des Weihnachtssterns der Pfeffer wächst und alle Inselgänse nach Polen und Ungarn ausgeflogen sind.
Wenn man aus einer großen Familie stammt und inzwischen mit vier Generationen feiert, dann gerät die stille Nacht zum bunten Abend. Damit sie sich gelegentlich vom Trubel zurückziehen kann, kriegt meine hundertjährige Mutter ein putziges Extrabäumchen ins Zimmer gestellt. Unsere Gemeinschafts-Konifere muß dagegen Zimmerhöhe haben. Sinnvollerweise hängt ein massiver Haken an der Decke, woran die Tanne auch an der Spitze befestigt wird. Die silberne Rettungsplane auf dem Teppich weht bei jedem Lufthauch in die Höhe, bis sie durch marmorne Aschenbecher und silberne Zuckerdosen an allen vier Ecken gebändigt wird. Leider sieht man nie allzuviel von der natürlichen Tannenfarbe, denn sie wird gründlich überputzt. Das ist Sache unserer Nachkommen, die einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, alles, aber auch alles, was sich da in der Weihnachtskiste angesammelt hat, aufzuhängen: Vögel aus Pappmache, aufgefädelte Apfelkerne aus Grundschultagen, Omas Laubsägefigürchen, Babys aus Kaugummi-Automaten, Insekten aus geflochtenem Gras, Fimo-Bananen und negroide Engel aus Mexiko, ein elektrischer Santa aus Amerika mit dem handgeschriebenen Etikett »doesn’t work«, gläserne Elche aus Schweden - kurzum erlesener Kitsch aus aller Herren Länder.
Jahr für Jahr bricht dann der Lametta-Krieg aus. Nicht etwa: ob überhaupt oder gar nicht. Vor über 50 Jahren bekam ich von meinem Vater die Instruktion Lametta muß geworfen werden. Mein Mann plädiert dagegen für eine gediegene Knotenlösung. So kommt es, daß die Dekorateure bei seinem Eintreten mit ernstem Gesicht einzelne Silberfäden um Zweige schlingen und bei meinem Auftauchen unter unartigem Gekicher mit verklumpten Strähnen schmeißen. Echte rotbackige Äpfel, Honigkerzen und ein paar Strohsterne - so wollen sie es nicht! Während der Baum seiner Vollendung als Gesamtkunstwerk entgegenschwankt, dudelt das Radio die ganze Bandbreite amerikanischer Xmas-Schlager herunter.
Aber wenn ich schließlich die Gans gefüllt, verflucht und zugenäht habe, wenn mein Mann den Tannenbaum zurechtgehackt und aufgehängt hat und unsere Kinder ihn aufgedonnert haben, gibt es als amuse-gueule gebratene Gänseleber mit Apfelstückchen und Zwiebeln, es wird pausiert und nach der schweren Maloche gepflegt geplaudert: »Noch nie im Leben hatten wir einen schöneren Baum.«
Unsere drei Kinder und ihre Partner, meine Schwester, der Neffe, mein Mann und ich packen noch kurz vor Torschluß in verschwiegenen Ecken die Geschenke ein. Es mangelt meistens an geeignetem Papier,
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