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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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gearbeitet, meinen Lebensunterhalt dank ihrer Existenz verdient. Ich atmete dieselbe Luft wie sie und teilte ihren Gestank. Wie sollte ich je auf dem Pfad der Tugend wandeln, wenn ich eine Kette hinter mir herzog, die selbst Dickens’ Marley beschämt hatte.
    Diego und Hush (der zwar im Ruhestand, aber keineswegs geläutert war), nicht zu vergessen Alphonse Rinaldo, gehörten alle zu einer dunklen Materie, die der Leim war, der die sichtbare und ahnungslose Welt zusammenhielt. Ich war ein freies Radikal, das hin und wieder die Verbindung zwischen dem Licht und dieser Dunkelheit herstellte.
     
    Um fünf Uhr morgens stieg ich vom Dach und nahm ein Taxi zu meinem Büro.
    Ich bin kein Sherlock Holmes. Ich kann weder Zigarettenasche lesen, noch habe ich die wichtigsten und aktuellsten Erkenntnisse der forensischen Wissenschaft in meinem Gehirn gespeichert. Ebenso wenig bin ich ein Meister der Verkleidung und des Dialekts.
    Ich besitze jedoch eine Skimütze und einen alten dunkelgrünen Mantel, der stark nach saurem Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen riecht. Ich habe ein Paar ausgetretene Schuhe und löchrige Wollhandschuhe. Und in den letzten paar Tagen war mir außerdem noch ein grauer Stoppelbart gewachsen.
    Wenn man dann noch eine dicke Brille mit Fensterglas aufsetzt, verwandelt sich selbst ein Superman wie ich in einen heruntergekommenen Clark Kent.
     
    »Hey, Sie!«, rief mir ein Mann in der Eingangshalle des Tesla Building zu. »Was machen Sie hier?«
    »Hey, Warren«, sagte ich zu dem Wachmann. »Ich bin’s.«
    »Mr. McGill? Was, was ist los, Sir?«
    »Es ist die verdammte Wirtschaftsflaute«, sagte ich. »Man muss an allen Ecken und Enden sparen.«
    Der attraktive Jamaikaner mit schwarzen und chinesischen Vorfahren starrte mich an und versuchte, meinen Auftritt zu begreifen. Ich schenkte ihm ein Lächeln und schlenderte zu der Drehtür.
    Mein Herz flatterte, und der Morgen streifte die Nacht eben ab.

45
    Die 27 th Street zwischen der 6 th und 7 th Avenue war an jenem Tag mein Revier.
    Ich fand einen kleinen Pappkarton und einen weggeworfenen Filzstift. Auf einen weißen Zettel schrieb ich obdachlos und hockte mich neben eine kleine Gasse zwischen Patricks Wagen und John Prince’ Hauseingang.
    Wenn jemand vorbeikam, murmelte ich »Bitte, Sir« oder »Bitte helfen Sie, Ma’am«. Meine Stimme bebte, und meine ausgestreckte Hand zitterte.
    Nach einer halben Stunde war ich beinahe komplett in meiner Rolle aufgegangen. Ungefähr jeder fünfte oder sechste Passant warf etwas in meinen Karton. Es war ein kalter Tag, so dass das Zittern in der Stimme von alleine kam. Der Schmerz über den Verlust von Aura erfüllte mein Flehen. Sogar das Geld trug zu meiner imaginierten Verzweiflung bei. Das war das Wasser, das die hartherzige Hannah aus dem alten Song über die Ertrinkenden goss.
    Die Stunden verstrichen, und ich wieherte wie ein Eselbaby, das durch die Unbilden des Lebens allein in der Welt zurückgelassen worden war. Bis …
    »Für wen hältst du dich, du Wichser?«
    Es war ein Weißer mit einem Schwarzen als Verstärkung, beide in Kleidung, die mindestens so antik war wie meine. Sie waren eine ganze Ecke jünger, als sie aussahen, und sie sahen immer noch jünger aus, als ich es war.
    Der Weiße übernahm das Reden, und ich brauchte keine große Kombinationsgabe, um ihre Motive zu ergründen. In den paar Stunden, die ich jetzt bettelte, hatte ich mehr als 85 Dollar eingeheimst, obwohl dieser Straßenabschnitt offensichtlich zu ihrem Territorium gehörte.
    Meine Knie schmerzten, als ich aufstand. Man konnte die Gelenke knacken hören.
    Für Bettler waren sie recht groß, beide um die eins achtzig. Ich sah sie an und wusste, dass ich ihnen einfach einen Anteil von den Einnahmen aus meiner Aktion hätte geben sollen, damit alles weiter schön glattlief.
    Aber wenn ich in meinem Leben imstande gewesen wäre, derart kluge Entscheidungen zu treffen, hätte ich mich nicht auf dieser Straße befunden, nicht in meiner Ehe, nicht im Visier von New Yorks tapferen Gesetzeshütern und wäre auch sonst von allem Bösen unbeleckt gewesen.
    »Ihr zwei Flachwichser seht besser zu, dass ihr Land gewinnt«, sagte der Mann, den ich spielte.
    Der Weiße (der mittelmeerblaue Augen hatte) machte einen halben Schritt nach vorn, bevor er das Messer mit dem Schlagringgriff in meiner rechten Faust entdeckte. Dank der Barriere meines stinkenden Mantels konnte es niemand außer den beiden sehen.
    O Scheiße , stand den

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