Falsches Spiel: Roman (German Edition)
Ort versetzt, an dem ich aufgewachsen bin.
In meinem Viertel kennt man kein gutes Benehmen, zumindest nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Musst du pinkeln und zur Erfüllung deines Bedürfnisses immer erst über einen Außengang an drei, vier Türen vorbeilaufen, wird eine gewisse Vertraulichkeit zum Geburtsrecht. Die Kloschüssel vereint die Menschen mehr als sämtliche Ideologien. Familien halten zusammen wie Mäuse, die in derselben Mausefalle stecken, denn das Problem ist für alle das gleiche: die chronische Angst, bis zum Monatsende nicht hinzukommen.
Meine Mutter und mein Vater waren Arbeiter in einer schweren Zeit, als es noch nicht all die Schutzmaßnahmen gab. Aber immerhin hatten sie zwei Gehälter, und wir schlugen uns wacker. Außerdem hatte der gute Gino Masoero seinen Gemüsegarten, und meine Mutter schaffte es unter Vollführung etlicher Salto mortale, ihre Schichten in der Fabrik mit ein paar Jobs bei Familien in der Innenstadt zu vereinbaren.
Das Problem war nur, dass ich meine Eltern nie zu Gesicht bekam.
Ich wurde von meiner Großmutter väterlicherseits aufgezogen, die auch in unserem Haus wohnte, in zwei Zimmern, die auf den Hof hinausgingen. Sie war klein und hager, und nur ein Blinder mit Krückstock hätte sie als ansehnlich bezeichnet. Ihre Schuhe hatten Größe 34, und wenn sie auf dem Stuhl saß, reichten ihre Beine nicht bis zur Erde. Sie hatte bestenfalls die Volksschule besucht, wenn überhaupt. Erst Jahre später fiel mir auf, dass sie hinkte. Ihr Gang hatte mich einfach nie beschäftigt.
Sie war meine Großmutter, und basta.
An Winternachmittagen setzten wir uns manchmal ans Fenster, und sie las mir Comics vor. Mir gefiel Superman, den man damals in Italien unter dem Namen Nembo Kid kannte. Meine Großmutter hatte gewisse Probleme, das ›n‹ und das ›m‹ auseinanderzuhalten, und das ›k‹ existierte in ihrem Alphabet überhaupt nicht. Bis ich in die Schule kam, wuchs ich in dem Glauben auf, mein Lieblingsheld heiße Membo Rid.
Für die Gegend, in der ich lebte, war das vollkommen okay.
Die Grundschule habe ich im selben Viertel besucht und war dort ein Kind wie jedes andere. Vielleicht ein bisschen weniger fleißig, dafür aber lebhafter und entschieden rauflustiger. Probleme mit den Fäusten zu lösen, war für die Kinder von der anderen Seite so etwas wie das Gesetz des Dschungels, ein ungeschriebenes Gesetz, das aber deswegen nicht weniger verbindlich war. Und wenn man Prügel kassierte, war es verpönt, sich bei seinen Eltern zu beschweren.
Aus zwei Gründen.
Zum einen verstieß man gegen eine Art Ehrenkodex. Zum anderen, und das war entscheidender, ging man das Risiko ein, vom Vater die nächste Tracht zu beziehen. Der Ärger begann, als ich auf die Mittelschule kam, die in Richtung Innenstadt lag. Um dorthin zu gelangen, musste ich die Brücke überqueren, die zwei Zivilisationsformen voneinander trennt.
Auf der einen Seite herrscht soziale Gerechtigkeit. Auf der anderen die Welt, wie sie wirklich ist.
Ich musste erfahren, dass es in der Stadt auch noch andere Kinder gab, Kinder von Notaren, Ärzten, Anwälten und Geschäftsleuten. Sie wurden jeden Morgen mit dem Auto zur Schule gebracht, und zwar nicht in uralten Seicentos, die nicht einmal abbezahlt waren. Die kurzen Hosen wiederum waren nicht richtig kurz, sondern reichten – wie in den Filmen mit Freddie Bartholomew – bis ans Knie. Die Mädchen wiederum waren schön und trugen Kleider aus den Geschäften in der Via Dante, nicht von Upim oder von der Frau, die mit ihrer Karre ins Viertel kam.
Für mich gab es nur eine Möglichkeit, mich nicht minderwertig zu fühlen.
Die anderen zu vermöbeln.
Ich weiß nicht, wie oft ich, den Blick auf die Pritsche gerichtet, in einem fremden Wagen über die Brücke gefahren bin, begleitet vom Schuldirektor, einem Polizisten oder einem Elternteil, dessen Kind ich malträtiert hatte. Zu Hause bezog ich von meinem Vater Prügel, unter den Tränen meiner Mutter. Ich beklagte mich nicht und weinte nie.
Auch das war eine Art Ehrenkodex. Mein persönlicher in diesem Fall.
Ich handelte mir einen üblen Ruf ein und diente als abschreckendes Beispiel für alle, einer, der noch böse enden wird. Meine Großmutter humpelte durch die Wohnung und lamentierte mit ihrer weinerlichen Stimme, dass wir wegen mir noch mal in die Zeitung kämen. Mein Vater aß und sagte kein Wort. Wie er es zeit seines Lebens gehalten hat.
Ich blieb allein und ging zum Fluss.
Dort wuchsen
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