Falsetto
würde, wenn ich könnte, aber ich kann nicht einfach meine Sachen packen und von hier fortgehen.«
Es war unerträglich, ihn so zu sehen. Er sah so kläglich aus.
Tonio fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er war müde. Die Schultern taten ihm weh, und er wollte unbedingt schlafen.
Plötzlich erschien ihm der Gedanke, noch einen Augenblick länger in diesem Zimmer bleiben zu müssen, unerträglich.
»Domenico, wenn du erst einmal in Rom bist, wirst du nicht mehr an mich denken, du weißt, daß das so sein wird«, sagte er. »Du wirst mich und alle anderen hier vergessen.«
Domenico sah ihn nicht an. Er starrte in die Ferne, als wäre nichts von dem, was Tonio gerade gesagt hatte, zu ihm durchgedrungen.
»Du wirst berühmt werden«, sagte Tonio. »Meine Güte, was hat der Maestro gesagt? Du könntest nach Venedig gehen, wenn du wolltest, oder gleich nach London. Du weißt genau-sogut wie ich...«
Domenico legte seine Serviette weg und erhob sich von seinem Stuhl. Er kam um den Tisch herum, und bevor Tonio ihn davon abhalten konnte, ließ er sich neben ihm auf die Knie nieder. Er blickte Tonio in die Augen.
»Tonio«, sagte er, »ich möchte, daß du mit mir kommst, nicht nur nach Rom, sondern überallhin. Ich werde nicht nach Venedig gehen, wenn du nicht dorthin willst. Wir können nach Bologna und Mailand gehen, und dann nach Wien. Nach Warschau, Dresden, ganz gleich wohin, aber ich möchte, daß du mitkommst. Ich wollte dich das eigentlich erst in Rom fragen, wenn ich gesehen hätte, daß alles gut läuft, und falls es nicht gut läuft, also, also ... daran will ich jetzt nicht denken. Aber wenn es gutgeht, Tonio...«
»Nein. Nein, hör auf damit«, sagte Tonio. »Das meinst du doch nicht im Ernst. Es kommt nicht in Frage. Ich kann nicht einfach meine Ausbildung abbrechen. Du weißt nicht, was du da sagst...«
»Nicht für immer«, sagte Domenico, »nur für den Anfang, sechs Monate vielleicht, Tonio, du verfügst über die finanziel-len Mittel, es ist ja nicht so, daß du arm wärst. Du bist nie arm gewesen, und du -«
»Das hat doch damit nichts zu tun!« sagte Tonio plötzlich wü-
tend. »Ich habe keinerlei Verlangen, mit dir mitzukommen! Wie bist du nur darauf gekommen, daß ich das tun würde!«
Er bereute es sofort.
Aber es war zu spät. Außerdem hatte er das mit zu großer Aufrichtigkeit gesagt.
Domenico war ans Fenster getreten. Er stand da, den Rücken zum Zimmer gekehrt, eine zarte Gestalt, halb verborgen im Schatten. Tonio spürte: Ich muß das bei ihm wiedergutma-chen.
Aber erst als Domenico sich umdrehte und auf ihn zukam, erkannte er, wie tief er ihn verletzt hatte.
Domenicos Gesicht war verkniffen, ängstlich und tränenüberströmt. Als er auf Tonio zuging, biß er sich auf die Lippen, und seine Augen schimmerten feucht.
Tonio war wie betäubt.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, daß du mich mitnehmen wolltest«, sagte Tonio. Über den ärgerlichen Ton in seiner Stimme bestürzt, hielt er jedoch niedergeschlagen inne.
Wie war das nur gekommen?
Er hatte diesen Jungen für so stark gehalten, für so kalt. Das ließ ihn ebenso reizvoll erscheinen wie dieser erlesene Mund, diese geschickten Hände, der geschmeidige und anmutige Körper, der ihn stets begierig in sich aufnahm.
Tonio war beschämt und unglücklich. Er fühlte sich in Domenicos Gegenwart jetzt einsamer, als er sich je gefühlt hatte.
Wenn er doch nur diesen Augenblick so tun könnte, als würde er ihn lieben.
Doch Domenico sagte, so als hätte er seine Gedanken gelesen: »Ich bedeute dir gar nichts.«
»Ich wußte nicht, daß du das wolltest«, sagte Tonio. »Ich schwöre, ich wußte es nicht!« Er stand kurz davor, selbst in Tränen auszubrechen, dann jedoch wurde er plötzlich wütend.
In ihm wallte jene Grausamkeit auf, der er im Bett so oft freien Lauf gelassen hatte. »Gütiger Himmel«, sagte er, »was hat uns denn miteinander verbunden?«
»Wir waren ein Liebespaar!« antwortete Domenico mit ganz leiser, vertraulicher Stimme.
»Das waren wir nicht!« entgegnete Tonio. »Es war alles ein tö-
richtes Spiel, nur die schändlichste ...«
Domenico hielt sich die Ohren zu.
»Und hör um Himmels willen auf zu weinen. Weißt du, wie du dich jetzt benimmst, wie ein unausstehlicher Eunuch!«
Domenico zuckte zusammen. Sein Gesicht war tränennaß und kreidebleich, als er sagte: »Wie kannst du so etwas zu mir sagen? Wie sehr du dich verabscheuen mußt, um so mit mir zu reden! O Gott, ich wünschte, du
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