Falsetto
plötzlich, ohne es gewollt oder geplant zu haben, weiter: »Mein Gott, wenn Sie nicht so ein roher und gefühlloser Mensch wären«, sagte er. »Warum reden Sie so zu mir! Ich würde so gerne glauben, daß für mich immer noch die Möglichkeit besteht, jemand zu sein, der innerlich gut ist, der Wert hat. Dennoch habe ich mein Leben durch Domenico zu etwas gemacht, das nicht einmal dazu taugt, in die Gosse geworfen zu werden. Wegen Nächten wie diesen hat er Trä-
nen vergossen, und ich bin der Grund dafür.«
Er funkelte Guido wütend an.
»Warum sind Sie ins Meer gegangen?« wollte er wissen.
»Was hat Sie dazu getrieben? Der Verlust meiner Stimme?
Jener Stimme, für die Sie bis nach Venedig gereist sind, um sie hierherzuholen! Nun, ich bestehe nicht nur aus meiner Stimme, ich bestehe auch aus Fleisch und Blut!« sagte er.
»Und dennoch bin ich weder Mann noch Frau, es macht also keinen Unterschied, bei wem ich liege. Aber auf diese Weise verwandle ich mich in Dreck.«
»War es so falsch, bei ihm zu liegen?« flüsterte Guido. »Wem wurde dadurch weh getan, jetzt da du bist, was du bist, und er ist, was er ist? War es so falsch, daß ihr beieinander ein wenig Zuneigung gesucht habt?«
»Ja, es war falsch, weil ich ihn verachtete! Ich bin bei ihm gelegen, als würde ich ihn lieben, aber ich habe ihn nicht geliebt.
Und in meinen Augen ist das falsch. Selbst in diesem Zustand gibt es noch Dinge, die zählen!«
Guido starrte geradeaus. Dann nickte er ganz langsam. »Warum hast du es dann getan?« flüsterte er.
»Weil ich ihn brauchte«, sagte Tonio. »Ich fühle mich hier in diesem Conservatorio wie verwaist, und ich brauchte ihn! Ich habe es allein nicht geschafft! Ich habe es versucht, aber es ist mir nicht gelungen. Jetzt bin ich wieder allein, und das ist schlimmer als jeder Schmerz, den ich bislang erfahren habe.
Ich habe mich diesem Schmerz tausendmal gestellt und geschworen, ihn zu ertragen. Aber es ist manchmal mehr, als ich aushalten kann. Domenico schenkte mir etwas, das wie Liebe aussah, und ließ mich den Mann spielen, und so habe ich dieses Geschenk angenommen.«
Er drehte Guido den Rücken zu. Na großartig, da wurden all seine Vorsätze jetzt, wo dieser Damm gebrochen war, davon-gespült. Alles, woran er noch denken konnte, war, daß er gerade in diesem Augenblick einem anderen sein Herz ausschüttete. Da war auch Haß, Haß und Abscheu, genau wie er ihn für Domenico empfunden hatte.
»Wie soll ich das ertragen?« fragte er. Er drehte sich langsam wieder um. »Wie können Sie es ertragen, jeden Tag Ihres Lebens mit solchem Zorn und solcher Kälte zu arbeiten und nichts als Beschimpfungen von sich zu geben? Gütiger Himmel, haben Sie denn nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, jene, die Sie unterrichten, zu lieben, mit jenen, die sich so sehr bemühen, dem gnadenlosen Takt zu folgen, den Sie ihnen vorgeben, Mitleid zu haben!«
»Du willst also von mir geliebt werden?« fragte Guido leise.
»Ja, ich will von Ihnen geliebt werden!« sagte Tonio. »Ich wür-de auf die Knie fallen, um von Ihnen geliebt zu werden. Sie sind mein Lehrer! Sie sind der einzige, der mich leitet und formt, der meine Stimme hört, wie sie noch nie jemand gehört hat. Sie sind derjenige, der danach strebt, sie auf ein Niveau zu heben, das ich allein nie erreicht hätte. Wie können Sie nur fragen, ob ich von Ihnen geliebt werden will? Können Sie mich denn nicht mit Liebe unterrichten? Es wäre doch möglich, daß ich mich, wenn Sie mir gegenüber ein klein wenig Freundlichkeit zeigten, öffnen würde wie die Blüten im Frühling. Vielleicht würde ich mich dann für Sie in einer Weise anstrengen, daß meine bisherigen Fortschritte dagegen bedeutungslos erscheinen!
Ich soll das Stück singen, das Sie komponiert haben. Wenn Sie mich liebten, dann könnte ich alles tun, wofür Sie mich für fähig halten. Wenn Sie mir nur, neben Ihrer harten, ehrlichen Kritik, auch Liebe schenken würden, wenn Sie dies miteinander vermischen würden, dann könnte ich aus dieser Dunkelheit herausfinden, dann könnte ich hier an diesem feuchten, fremden Ort, wo ich eine Kreatur bin, deren Namen auszusprechen ich nicht ertragen kann, auch gedeihen. Helfen Sie mir!«
Tonio hielt inne. Das hier war schlimmer als alles, was er sich vorgestellt hatte. Er fand sich nicht mehr zurecht, fand sich absolut nicht mehr zurecht. Er wollte dieses grausame, gleichgültige Gesicht nicht einmal mehr ansehen, wollte diesen Blick nicht mehr sehen, der
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