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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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draußen. Er hätte weinen mögen.
    »Maestro, lassen Sie mich für heute abend gehen«, sagte er.
    »Ich kann nicht mehr singen. Ich bin leer.«
    »Du bist gerade richtig aufgewärmt. Deine hohen Töne sind tadellos«, sagte Guido sanft. »Und ich möchte, daß du mir das hier vorsingst.«
    In seiner Stimme lag eine ungewohnte Freundlichkeit. Er strich ein Schwefelholz an und entzündete eine Kerze. Die Winter-nacht war rasch hereingebrochen.
    Tonio blickte schläfrig und benommen auf und sah das Notenblatt, auf dem die Tinte noch frisch war.
    »Das ist das, was du Weihnachten singen sollst«, sagte Guido. »Ich habe es selbst komponiert, für deine Stimme.« Dann fügte er ganz leise hinzu: »Es ist da erste Mal, daß irgend etwas von mir hier aufgeführt wird.«
    Tonio forschte in seinem Gesicht, suchte nach einer Spur von Zorn, aber in dem weichen, unregelmäßigen Flackern der Kerze sah Tonio nur, daß Guido ruhig wartete. In diesem Augenblick schien ein heftiger Gegensatz zwischen diesem Mann und Domenico zu bestehen, dennoch empfand Tonio etwas, ein Gefühl, das sie beide vereinte. Ach, Domenico ist die Sylphe, dachte er, und das hier ist der Satyr. Und was bin ich?
    Die große weiße venezianische Spinne.
    Er lächelte bitter und fragte sich dabei, was Guido wohl denken mochte, denn er sah, daß sich seine Miene verdunkelte.
    »Ich würde es gerne singen«, flüsterte Tonio. »Aber es ist noch zu früh. Ich werde Sie enttäuschen, wenn ich es versuche, ich werde mich selbst enttäuschen und all jene, die zuhö-
    ren.«
    Guido schüttelte den Kopf. Da war die Wärme eines flüchtigen Lächelns, dann sagte er leise Tonios Namen.
    »Warum hast du so große Angst davor?« fragte er.
    »Können Sie mir heute abend nicht meine Ruhe lassen? Lassen Sie mich doch gehen!« fragte Tonio. Er stand plötzlich auf.
    »Ich möchte von hier fort. Ich möchte überall sein, nur nicht hier.« Er ging auf die Tür zu, drehte sich dann noch einmal um. »Ist es mir gestattet, auszugehen?« wollte er wissen.
    »Du bist vor nicht allzulanger Zeit zu einem albergo gegangen«, sagte Guido, »auch, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen.«
    Tonio war überrumpelt, und das nahm ihm den Wind aus den Segeln. Er starrte Guido einen Augenblick lang voller böser Vorahnungen an, die schon fast in Panik mündeten.
    Auf Guidos Gesicht zeigten sich jedoch weder Kritik noch Zorn. Er schien zu überlegen, dann richtete er sich auf, als wäre er zu einem Entschluß gelangt. Er sah Tonio mit einem ungewohnt geduldigen Blick an, und als er zu sprechen anfing, war seine Stimme leise und beinahe verschwörerisch.
    »Tonio, du hast diesen Jungen geliebt«, sagte er. »Das wußte jeder.«
    Tonio war zu überrascht, um zu antworten.
    »Glaubst du denn, mir ist verborgen geblieben, welche Kämp-fe du durchgestanden hast?« fragte Guido. »Tonio, du hast schon so viel Schmerz erfahren. Gewiß kannst du dich deiner Arbeit zuwenden, wie du das früher schon getan hast, und du kannst ihn vergessen. Die Wunde wird heilen, vielleicht schneller als du es merkst.«
    »Ihn geliebt?« flüsterte Tonio. »Domenico?«

    Guido runzelte die Stirn und machte dabei fast eine Un-schuldsmiene. »Wen noch?« fragte er.
    »Maestro, ich habe ihn nie geliebt! Maestro, ich habe nichts für ihn empfunden. Ach, wenn es bei mir nur die kleinste Wunde gäbe, so daß ich irgendwie dafür büßen könnte!« Er hielt inne und starrte diesen Mann an.
    »Und das ist wahr?« fragte Guido.
    »Ja, es ist wahr«, sagte Tonio. »Das Unglück daran war nur, daß ich allein es wußte. Und ich mußte es ihm zeigen, ausgerechnet jetzt, da er auf dem Weg nach Rom ist, zum wichtigsten Termin seines Lebens. Gott weiß, ob ich jemals dieselbe Reise machen werde. Wie ich dann jeden verachten würde, der mich davonschickt, so wie ich ihn davongeschickt habe!
    Ich habe ihn verletzt, Maestro. Ich habe ihn auf gefühllose und dumme Weise verletzt.«
    Er machte eine Pause.
    All das sagte er zu Maestro Guido. Er starrte vor sich hin, erstaunt über seine eigene Schwäche. Er verabscheute sich deswegen und wegen der Einsamkeit, die hinter all dem stand.
    Aber Guidos Gesicht war undurchdringlich. Er saß da und wartete, ohne einen Ton zu sagen. Da kamen Tonio wieder all die kleinen Gemeinheiten in den Sinn, mit denen dieser Mann ihn in der Vergangenheit geplagt hatte.
    Er wußte, daß er jetzt gehen sollte, es war genug gesagt worden. Er konnte sich selbst nicht mehr länger trauen.
    Dennoch aber redete er

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