Falsetto
wärst nie hierhergekommen, ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen. Geh zur Hölle!
Ich wünschte, du würdest in der Hölle schmoren...«
Tonio schnappte nach Luft. Er schüttelte den Kopf und sah hilflos zu, wie Domenico zur Tür ging.
Aber er drehte sich noch einmal um. Sein Gesicht war so vollkommen, daß es selbst in seinem Elend eine unwiderstehliche Schönheit besaß. Seine leidenschaftlichen Gefühle hatten ihm Farbe verliehen. Er sah so unschuldig und verletzt aus, wie ein kleines Kind, das eben zu begreifen begonnen hat, was Enttäuschung ist. »Ich ... ich kann den Gedanken, dich zu verlassen, nicht ertragen...« gestand er. »Tonio, ich kann es nicht...«
Dann brach er ab. »Die ganze Zeit dachte ich, ich würde dir etwas bedeuten. Als du damals zu uns kamst, da warst du so unglücklich, so allein. Du schienst jedermann zu verachten.
Und nachts, wenn du dachtest, alles würde schlafen, konnten wir hören, wie du geweint hast. Wir konnten es hören. Und dann, als du zurückgekommen bist und die rote Schärpe angelegt hast, hast du dich so sehr bemüht, um uns zu täuschen.
Aber ich habe gewußt, daß du unglücklich bist. Wir alle wuß-
ten es. Wenn man in deiner Nähe war... dann konnte man deinen Schmerz spüren. Ich konnte ihn fühlen! Und ich dachte ...
Ich dachte, meine Gegenwart würde dir guttun. Du hast nicht mehr geweint, und du warst bei mir. Ich dachte ... ich dachte ...
daß ich dir etwas bedeutet hätte!«
Tonio vergrub das Gesicht in den Händen. Er stieß ein leises Stöhnen aus, dann hörte er, wie sich die Tür schloß. Domenicos Schritte verhallten auf der Treppe.
7
Die Woche war unerträglich gewesen. Seit Domenicos Abreise nach Rom hatten ruhelose Nächte an Tonios Kräften gezehrt.
Als er an diesem Abend vom Abendbrottisch zurückkam, wuß-
te er, daß er heute nicht mehr sehr lange würde arbeiten können.
Guido würde ihn beizeiten gehen lassen müssen. Tonio würde sich weder durch seinen Zorn noch durch Drohungen zurückhalten lassen.
Domenico war nach ihrem Abend in dem albergo bei Morgengrauen aufgebrochen. Loretti war mit ihm gefahren, Maestro Cavalla sollte nachkommmen. In den Korridoren war Lachen zu hören gewesen, Füßegetrappel.
Domenico würde den Bühnennamen Cellino tragen, und irgend jemand hatte gerufen: »Bravo, Cellino.«
Tonio hatte plötzlich seinen Platz am Fensterbrett verlassen und war ohne anzuhalten die Treppe hinuntergerannt, alle vier Stockwerke. An der Tür mußte er sich durch einen Knäuel von Jungen drängen. Kalte Luft schlug ihm entgegen und ließ ihn kurz innehalten, aber er erreichte die Kutsche noch kurz bevor sie losfuhr. Der Kutscher hielt die Peitsche schon in der Hand.
Domenicos Gesicht erschien am Fenster und erhellte sich auf so unschuldige Weise, daß Tonio einen Kloß im Hals spürte.
»Du wirst in Rom eine Sensation sein«, sagte er. »Dessen sind sich alle sicher. Du brauchst niemanden zu fürchten.«
Da erschien ein solch wehmütiges, unschuldiges Lächeln auf Domenicos Gesicht, daß Tonio spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er stand auf dem Kopfsteinpflaster und starrte der dahinrumpelnden Kutsche nach, dann begann ihm die Kälte in die Glieder zu kriechen.
Jetzt saß er ganz still auf der Bank in Guidos Zimmer und wußte, daß er heute abend nichts mehr schaffen würde. Er mußte schlafen oder in seinem kleinen Zimmer liegen und sich darauf vorbereiten, daß er Domenico vermißte, darauf, daß da keine warmen Glieder mehr waren, die sich an ihn kuschelten, kein geschmeidiger, duftender Körper, der bereit war, ihm zu geben, was immer er wollte. Aber in Wahrheit war es ihm egal, ob er Domenico jemals wieder zu Gesicht bekam.
Er schluckte und wünschte sich leise lächelnd, daß Guido ihn schlagen würde, wenn er sich weigerte, weiter zu üben. Er fragte sich, was er tun mußte, damit Guido ihn schlug. Er war jetzt größer als Guido. Er stellte sich vor, daß er wuchs und wuchs, bis er mit dem Kopf an die Decke stieß. Der längste Eunuch der Christenheit und von jenen Sängern, die über zwei Meter fünfzehn maßen, bei weitem der beste, hörte er eine Stimme ankündigen.
Müde blickte er auf und sah, daß Guido seine Notation beendet hatte und ihn schon eine Weile forschend anblickte.
Wieder überkam ihn dieses gespenstische Gefühl, daß Guido über das, was zwischen ihm und Domenico gewesen war, Bescheid wußte. Er dachte wieder an jene Zimmer, an all die feinen Wachskerzen. Und an das Meer
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