Falsetto
dem Ellbogen auf den Tisch.
»Du hast mich gebeten, dir etwas über deine Stimme zu er-zählen«, sagte er. »Vielleicht war es nicht richtig, dir nicht mehr darüber zu sagen, so hart zu dir zu sein. Nun, es war der einzige Weg, den ich kannte, um...«
Einer jener stillen, geisterhaften Diener war ins Zimmer getreten. Blauer Satin blitzte auf, und eine Hand erschien in dem weichen anmutigen Licht der Kerzen, um Wein einzuschenken.
Guido sah zu, wie sich das Glas füllte, bedeutete dem Mann mit einem Wink, zu warten, leerte sein Glas in einem Zug und sah dann zu, wie es sich abermals füllte.
»Ich werde offen mit dir reden«, sagte er. »Du bist, abgesehen von Farinelli, der beste Sänger, den ich je gehört habe. Du hättest dieses Solo schon am ersten Tag, als du ins Conservatorio kamst, singen können. Du hättest es in Venedig singen können.«
Seine Augen verengten sich ein wenig, als er Tonio musterte.
Ihn umgab jetzt eine ungewöhnliche Mischung aus Weichheit und Intensität, die der Wein an den Tag gebracht hatte.
»Dieses Solo ist für dich geschrieben«, führ er fort. »Es ist für die Stimme geschrieben, die ich in Venedig gehört habe, für den jugendlichen Sänger, dem ich dort Nacht für Nacht gefolgt bin. Ich kannte damals schon deinen Stimmumfang, deine Kraft. Ich hörte, wo du Schwierigkeiten hattest, die kein anderer bemerkt hätte. Ich wußte, was dir mit ein wenig Unterstützung durch deine Hauslehrer zu lernen gelungen war, und ich war erstaunt über die Tonreinheit und den natürlichen Ausdruck deines Gesangs.« Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft.
»Alles, was ich dir gebe, sind Flexibilität und Kraft.« Er seufzte. »In zwei Jahren wirst du soweit sein, um jede beliebige Arie aus jeder beliebigen Oper ausschmücken und sie überall, jederzeit und unter jedem beliebigen Kapellmeister perfekt zu Gehör bringen zu können. Das ist alles, was ich dir gebe ...«
Er hielt inne und wandte den Blick ab. Als er Tonio wieder ansah, waren seine Augen groß und dunkel. Seine Stimme war ein klein wenig tiefer geworden.
»Aber du besitzt noch etwas anderes, Tonio, etwas, das über die Stimme als solche hinausgeht«, sagte er. »Jenen Sängern, die es nicht von Natur aus besitzen, gelingt es fast nie, es sich anzueignen. Andere besitzen es zwar, verfügen aber nicht über deine klangliche Reinheit und Kraft. Dieses Etwas ist eine geheime Macht, die die Leute erschüttert, wenn sie dich hö-
ren, eine Macht, die ihre Gefühle aufwühlt, so daß sie von dir und dir ganz allein gefesselt sind. Wenn du Weihnachten in der Kirche singst, dann werden die Leute die Hälse recken, um dein Gesicht zu sehen. Sie werden aus ihren Alltagsge-danken gerissen. Wenn sie die Kirche wieder verlassen, werden sie nach deinem Namen fragen.
Ach, viele Jahre lang habe ich diese besondere Fähigkeit zu analysieren versucht, habe herauszufinden versucht, worin genau sie besteht. Als Junge habe ich sie selbst besessen und weiß deshalb, wie sie sich anfühlt. Aber ich kann sie nicht genau bestimmen. Vielleicht äußert sie sich in einem besonders feinen Taktempfinden, einem unendlich winzigen und unfehlbaren Zögern, dem Instinkt dafür, wann genau man einen Ton stärker anschwellen lassen muß, wann man damit aufhören muß. Vielleicht steht sie auch mit Äußerlichkeiten im Zusammenhang, mit den Augen, dem Gesicht, der Körperhaltung, die man einnimmt, wenn sich die Stimme erhebt. Ich weiß es nicht.«
Tonio hörte fasziniert zu. Er erinnerte sich an jenen Augenblick, als Caffarelli in Venedig vor die Rampenlichter getreten war. Er erinnerte sich an das erwartungsvolle Raunen, das durch die Mengen gegangen war. Und daran, wie er, nachdem er hinunter ins Parkett geeilt war, von diesem Eunuchen gefesselt gewesen war, selbst als Caffarelli nur vor- und zurück-gegangen war und keinen einzigen Ton gesungen hatte.
Konnte er bei anderen Menschen auch eine solche Wirkung hinterlassen? War das möglich?
»Da ist noch etwas«, sagte Guido. »Du hättest dieses besondere Feuer auch in dir gehabt, auch wenn du, so wie ich, im Alter von sechs Jahren verschnitten worden wärst. Aber du bist damals nicht verschnitten worden...«
Tonio spürte, wie sich in ihm etwas anspannte, spürte plötzlich Entsetzen in sich hochsteigen.
Guido aber streckte die Hand aus und beruhigte ihn mit einem leisen Streicheln. »Man hat dich«, fuhr er fort, »erzogen, um zu denken und zu handeln wie ein Mann. Und das verleiht dem, was du bist,
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