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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Übungen zugrunde lagen.
    Eigentlich war dieser Hang zur Gesprächigkeit bei Guido nichts Neues, aber in der Oper oder während der drauffolgen-den langen Spazierfahrten am Meer, hatte sich das Gespräch ausnahmslos um andere Sänger gedreht. Außerdem hatte es unpersönlich, manchmal sogar kalt gewirkt, wie Guido all sein Interesse auf fremde Kompositionen, fremde Menschen gerichtet hatte.
    Jetzt sprach Guido von der Musik, die sie miteinander teilten, und in jenen frühen Wochen der heftigsten und begierigsten Liebe schien es, als wäre Guido dieses Gespräch sogar noch wichtiger als ihre erotischen Begegnungen.
    An manchen Abenden, wenn sie von den Tavernen genug hatten, gingen sie zu einem der vielen Bälle, die ständig irgendwo gegeben wurden. Die Bälle der Contessa Lamberti, die eine große Kunstmäzenin war, bevorzugten sie dabei.
    Aber auch hier riß ihr intensives Gespräch nicht ab.
    Sie suchten sich dann irgendeinen ruhigen Salon, holten sich einen Kerzenleuchter ans Klavichord oder ans Pianoforte, das es seit einiger Zeit gab. Wenn Guido dann seine Finger eine Weile über die Tasten hatte tanzen lassen, machte er es sich auf irgendeinem Sofa bequem. Tonio setzte sich dann zu ihm und begann ihm abermals Fragen zu stellen. Manchmal fing Guido auch von allein zu erzählen an.
    In Guidos Augen lag ein sanftes Staunen angesichts solcher Augenblicke. Sein Gesicht, das entspannt war, wirkte jungenhaft und freundlich. Es war nicht zu glauben, daß er früher stets so zornig gewesen war.
    Als sie eines Abends in einem der kleinen Musikzimmer der Contessa beim Kartenspiel saßen - sie hatten einen runden Tisch, ein Päckchen Spielkarten und eine Kerze aufgetrieben -
    , sagte Tonio schließlich:
    »Maestro, erzähl mir etwas über meine Stimme!«
    »Zuerst will ich aber etwas von dir wissen«, meinte Guido.
    Tonio bemerkte, daß bei dieser Frage eine Spur von Guidos altem Zorn aufflackerte, und schauderte. »Warum willst du an Weihnachten dieses Solo nicht singen, obwohl ich dir gesagt habe, daß es einfach ist und daß ich es für dich geschrieben habe.«
    Tonio sah weg.
    Sobald er in der Kapelle seine Stimme allein erhob, würde er wirklich ein Kastrat sein. Das war es doch, nicht wahr? Dies war der eine große Schritt, der mehr bedeutete, als eine schwarze Tunika mit roter Schärpe zu tragen. Dies war der eine riesige Schritt, der mehr bedeutete, als seine Stimme mit den Stimmen anderer in einem Chor verschmelzen zu lassen.
    Er würde hervortreten, und in diesem Augenblick würde allen klar sein, was er war.
    Es war, als würde man ihn nackt ausziehen, damit alle die Verstümmelung sehen konnten, die man ihm beigebracht hatte. Es war unausweichlich, aber es machte ihm zutiefst angst.
    Als er jetzt im stillen über seine Körpergröße nachsann, über seine lange schlanke Hand, mit der er die Karten auf dem polierten Holz herumschob, dachte er: Werde ich überhaupt noch wie ein Junge klingen? Bin ich noch ein Junge? Oder wäre ich inzwischen schon ein Mann?
    Ein Mann. Er lächelte angesichts der grausamen Einfachheit dieses Wortes und angesichts dessen, was es alles an Bedeutung mitbrachte. Zum ersten Mal in seinem Leben erschien ihm das Wort... ja, wie denn? Grob. Egal. Du täuschst dich, hätte er fast laut geflüstert. Trotz des großen Spektrums hatte das Wort nur eine einzige verbindliche Bedeutung.
    Er war ein Kastrat, und er würde, wenn er in jener Kapelle seine nackte Stimme erhob, ein Kastrat sein.
    Er sah Guido an, der von all diesen dunklen und immerwährenden Dingen absolut nichts zu wissen schien. Er liebte Guido. Er würde für ihn singen.

    Da fiel ihm ganz plötzlich und unerwartet ein, daß Guido, als er das erste Mal von diesem Solo gesprochen hatte, gesagt hatte: »Es ist das erste Mal, daß irgend etwas von mir aufgeführt wird.« Großer Gott, war er denn so unbedarft gewesen, daß er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was das für Guido bedeuten mochte? War er ein solcher Narr gewesen?
    Er hatte die ganze Zeit gewußt, daß die herrlichen Arien, die er am Ende des Tages zu singen bekam, Guidos eigene Kompositionen waren.
    »Es bedeutet dir sehr viel, daß ich es singe«, sagte Tonio,
    »weil du es geschrieben hast, ist es nicht so?«
    Guidos Gesicht rötete sich, seine Augen wurden schmal.
    »Es ist wichtig, weil du mein Schüler bist und weil du soweit bist!« beharrte er.
    Aber sein Zorn erlosch so rasch wieder, wie er aufgeflammt war. Er stützte sich, das Kinn in der Hand, mit

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