Falsetto
...«
Hier stockte Guido. Er hatte seinen Blick auf Tonio geheftet und war wie gebannt. »Weil sie anders sind, als das bei den meisten Männern der Fall ist. Wenn du auf der Bühne stehst, dann wirst du alle überstrahlen.«
Tonio war still, als sie zum Conservatorio zurückkehrten und Guidos Gemächer betraten.
Das schwere Bett mit dem hölzernen Baldachin war für den Winter mit schlichten dunklen Vorhängen ausgestattet. Tonio kletterte auf die Bettdecke und lehnte seinen Kopf an das vertäfelte Kopfteil, während Guido die Kerzen am Cembalo an-zündete, was bedeutete, daß die Liebe erst später kommen würde.
Mit leiser Stimme fragte Tonio: »Wie groß werde ich werden?«
»Das kann man nicht sagen. Es hängt davon ab, wie groß du ursprünglich geworden wärst. Allerdings wächst du recht schnell.«
Tonio spürte einen galligen Geschmack im Mund und hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Aber er mußte diese Fragen unbedingt stellen, jetzt oder nie. Sie hatten ihm schon so lange auf der Zunge gelegen.
»Was geschieht sonst noch mit mir?«
Guido drehte sich um. Tonio fragte sich, ob Guido sich an jene Nacht in Rom erinnerte, an den kleinen Garten, als er, nach Luft ringend, so als würde er gleich ersticken, die Hände nach jener Statue ausgestreckt hatte, die im Mondlicht von innen heraus in einem weißen Licht geglüht hatte.
»Was geschieht mit mir!« flüsterte er. »Insgesamt. Du weißt schon.«
Wie gleichgültig Guido erschien. Er trat zwischen Tonio und das Kerzenlicht, so daß sein Gesicht in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war.
»Du wirst weiter wachsen. Deine Arme und Beine werden länger werden, wieviel weiß jedoch niemand. Aber denk dran, sie werden dir immer normal erscheinen. Und es ist eben diese Biegsamkeit der Knochen, die dir eine solche Stimmgewalt ermöglicht. Mit jedem Tag, an dem du übst, vergrößerst du deine Lungen. Die elastischen Knochen lassen deinen Lungen Raum zum Wachsen, so daß du im oberen Register bald über eine Kraft verfügen wirst, die eine Frau niemals erreichen kann. Auch kein Junge und kein anderer Mann.
Deine Hände jedoch werden weit herunterhängen, außerdem wirst du Plattfüße bekommen. Du wirst in den Armen so kraftlos sein wie eine Frau. Den natürlichen muskulösen Körperbau eines Mannes wirst du nie besitzen.«
Tonio wandte sich heftig ab, doch Guido packte ihn an den Schultern.
»Vergiß es!« sagte Guido. »Ja, ja, ich meine, was ich sage.
Vergiß es. Denn jedesmal, wenn du deswegen Schmerz empfindest, heißt das, daß du nicht akzeptiert hast, was sich niemals mehr ändern läßt! Erkenne, wo deine Stärken liegen.«
Tonio nickte voller Bitterkeit und Hohn. »O ja«, sagte er.
»Jetzt habe ich noch eine Lektion für dich«, sagte Guido.
»Und die hast du dringend nötig.«
Tonio nickte leise lächelnd. »Dann lehre mich«, sagte er.
»Du hast dich von den Frauen abgewandt, und das ist nicht gut.«
Tonio war empört. Er wollte schon protestieren, aber Guido küßte ihn stürmisch auf die Stirn.
»In Venedig hattest du ein Mädchen. Du bist mit ihr in einer Gondel davongefahren, wenn die Sänger nach Hause gingen.
Ich habe dich dabei beobachtet. Es geschah Nacht für Nacht.«
»Auch das sollte ich wohl besser vergessen.« Tonio lächelte wieder und spürte, wie es sein Gesicht mit Kälte überzog.
»Nein, keinesfalls. Vergiß es niemals. Halte die Erinnerung daran in Ehren, und wann immer dich die Leidenschaft packt, egal wann, egal wo, dann mußt du dieses Ritual, wenn es irgendeine sichere Möglichkeit dazu gibt, wiederholen. Und wenn dich die Leidenschaft in bezug auf einen Mann packt, auf andere Eunuchen, auf wen auch immer, dann ergreife sie, verschwende sie nicht, laß sie nicht vorbeigehen. Tu all das mit Anstand und Vernunft, aber wende dich nicht davon ab, nicht aus Liebe zu mir, nicht aus Liebe zur Musik, nicht aus Gleichgültikeit, sondern lausche immer wieder auf deine inneren Bedürfnisse.«
»Warum sagst du mir das?«
»Weil man nie weiß, wann dieses Verlangen verschwindet.
Männer verlieren es nie. Bei uns ist das nicht immer so.«
»Du! Du hast doch keine Angst, es zu verlieren!« sagte Tonio.
»Nein. Jetzt nicht mehr. Aber ich hatte es fast schon verloren.
Erst in Ferrara, als ich dich dort in jenem Bett liegen sah, fiebrig und hilfsbedürftig, da kam es zurück.« Guido machte eine Pause. »Ich hatte damals geglaubt, es wäre mir zusammen mit meiner Stimme verlorengegangen.«
Tonios
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