Falsetto
verheiratet. Fast alle italienischen Mädchen ihres Alters waren in Klöstern eingesperrt und besuchten nur ganz selten einmal einen Ball.
Seine zukünftige Braut Francesca Lisani hatte man so gründlich unter Verschluß gehalten, daß er, als er erfuhr, er solle sie heiraten, nicht einmal wußte, wie sie aussah. Als sie sich dann schließlich an jenem Nachmittag in ihrem Kloster getroffen hatten, da hatte er gesehen, daß sie wunderschön war! Warum hatte ihn das damals so überrascht, überlegte er jetzt. Sie war doch Catrinas Tochter. Aber was brachte es, an all das zu denken? Im Grunde erschien es ihm unwirklich, oder vielmehr kam es ihm in einem Augenblick unwirklich und im nächsten dann schmerzhaft real vor. Geradezu überwältigend real aber war, daß ihm, jedesmal, wenn er einen Augenblick stehenblieb, jemand zu seinem Auftritt gratulierte.
Elegante Herren, die er nicht kannte, verbeugten sich vor ihm, den Gehstock in der einen Hand, das Spitzentaschentuch vor-nehm in der anderen, sagten ihm, daß er ganz wunderbar gesungen hätte und daß sie von ihm noch Großes erwarteten.
Großes! Die Damen lächelten ihn an, senkten einen Augenblick ihre kunstvoll bemalten Fächer und signalisierten ihm, daß er sich, wenn er wollte, zu ihnen setzen könne.
Und Guido, wo war Guido? Umgeben von Menschen stand Guido, die kleine Contessa Lamberti am Arm, da und lachte doch tatsächlich.
Als er sah, daß Guido ihm winkte, ging er zu ihm.
»Siehst du den kleinen Mann dort, den Russen, Graf Sherzinski«, flüsterte Guido. »Er ist ein brillanter Amateur, und ich habe eine Sonate für ihn geschrieben. Vielleicht spielt er sie später.«
»Das ist doch großartig«, flüsterte Tonio zurück. »Aber warum spielst du sie nicht selbst?«
»Nein.« Guido schüttelte den Kopf. »Dafür ist es noch zu früh.
Gerade eben hat man entdeckt, daß ich mehr bin als...« Aber er schluckte die Worte hinunter, und Tonio drückte ihm heimlich und verstohlen die Hand.
Soeben waren noch weitere Musiker aus dem Conservatorio eingetroffen. Guido entfernte sich, und sofort kam Piero, der blonde Kastrat aus Mailand, auf Tonio zu. »Du warst heute abend wunderbar«, sagte er. »Jedesmal, wenn du singst, können wir etwas von dir lernen.«
Dann zog er Tonio ins Billardzimmer. »Ich möchte mit dir reden«, sagte er. »Es geht um Giovanni, Tonio. Du weißt, daß der Maestro ihn noch ein weiteres Jahr hierbehalten möchte.
Er möchte ihn gerne auf der Bühne sehen, aber Giovanni hat ein Engagement in einem römischen Chor angeboten bekommen und will es annehmen. Wenn es sich um die Kapelle des Papstes handeln würde, dann hätte der Maestro zugestimmt, aber so wie es sich jetzt verhält, hat er nur die Nase darüber gerümpft... Wie denkst du darüber, Tonio?«
»Ich weiß nicht«, sagte Tonio. Aber er wußte es genau. Giovanni war niemals gut genug für die Bühne gewesen, das hatte er gewußt, als er ihn zum ersten Mal hatte singen hören.
Ein Stück entfernt war jetzt wieder das Mädchen mit dem blonden Haar aufgetaucht. War es dasselbe violette Kleid, das sie trug? Jenes, das sie vor fast einem Jahr getragen hatte?
Ihre Taille schien so schmal, daß er sie leicht mit seinen beiden Händen hätte umschließen können, ihr Dekolleté war makellos, die Haut dort ebenso zart wie die ihrer Wangen. Ihre Augenbrauen schienen nicht hell zu sein, wie das bei Blondi-nen meist der Fall ist, sondern dunkel, rauchfarben wie das Blau ihrer Augen. Das war es, was sie so ernst erscheinen ließ. Er konnte ganz deutlich sehen, wie sie leicht die Stirn runzelte und ein wenig schmollend die Unterlippe vorschob.
»Aber Tonio, Giovanni möchte gerne nach Rom gehen, das ist ja das Schlimme. Giovanni hat sich auf der Bühne nie wohl gefühlt, und er wird sich dort auch nie wohl fühlen. In der Kirche hat er aber immer sehr gern gesungen, schon, als er noch ganz klein war...«
Tonio mußte darüber lächeln. »Aber Piero, was kann ich denn da tun?«
»Du kannst uns sagen, was du darüber denkst, Tonio«, meinte er. »Glaubst du, Giovanni könnte sich als Opernsänger je seinen Lebensunterhalt verdienen?«
»Das solltest du Guido fragen.«
»Aber Tonio, du verstehst mich nicht. Maestro Guido würde dem Maestro di Cappella niemals widersprechen. Aber Giovanni möchte wirklich gerne nach Rom gehen. Er ist neunzehn und schon lange genug hier. Das ist das beste Angebot, das er je bekommen hat.«
Ein kurzes Schweigen senkte sich auf sie herab. Das Mädchen
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