Falsetto
nach Weihnachten begann er zu jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, einen französischen Fechtmeister aufzusuchen.
Ganz gleich, wie vielen anderen Verpflichtungen er nachkommen mußte, es gelang ihm stets mindestens dreimal pro Woche, das Conservatorio zu verlassen.
Guido war wütend. »Das kannst du doch nicht machen«, beharrte er. »Du übst den ganzen Tag, probst den ganzen Abend mit den Studenten, gehst jeden Donnerstag in die Oper, besuchst Freitag abends die Contessa. Und jetzt möchtest du die restlichen Stunden auch noch in einem salle d'armes verbringen, das ist doch Unsinn.«
Tonios Gesicht nahm jedoch einen entschlossenen Ausdruck an, während ein eisiges Lächeln auf seinen Lippen erschien.
Und er gewann.
Er redete sich ein, daß er nach einem Tag voller Musik und nervöser, zankender Stimmen manchmal aus dem Conservatorio wegkommen und sich unter Menschen, die keine Eunuchen waren, begeben mußte, wenn er nicht verrückt werden wollte.
Tatsächlich war jedoch das Gegenteil der Fall. Es fiel ihm unglaublich schwer, zur Fechthalle zu gehen, den Franzosen, der ihn unterrichtete, zu begrüßen und seinen Platz unter den jungen Männern in Spitzenhemden einzunehmen, die mit vom Üben schweißnassen Gesichtern herumstanden und sofort bereit waren, ihm einen Kampf anzubieten.
Er spürte ihren Blick auf sich ruhen und war sich sicher, daß sie hinter seinem Rücken über ihn lachten.
Dennoch nahm er, den linken Arm in vorschriftsmäßiger Haltung angewinkelt, die Beine zum Sprung gebeugt, kühl seine Position ein und begann seine Stöße auszuführen und zu pa-rieren. Während er sich mit offensichtlicher Leichtigkeit und Anmut bewegte, strebte er danach, immer schneller und präziser zu werden, wobei ihm die große Reichweite seiner Arme einen tödlichen Vorteil verlieh.
Wenn andere sich schon verausgabt hatten, machte er weiter.
Er spürte dabei das Kribbeln der härter werdenden Muskeln in seinen Waden und Armen. Der Schmerz verwandelte sich in neue Kraft. Dann drängte er seine Fechtpartner manchmal so wütend an die Wand, daß der Fechtmeister auf ihn zutrat, um ihm Einhalt zu gebieten, und leise zu ihm sagte: »Tonio, komm jetzt, ruh dich eine Weile aus.«
Es war schon beinahe Fastenzeit, als ihm auffiel, daß man in seiner Gegenwart weder über ihn witzelte noch das Wort »Eunuch« laut aussprach.
Hin und wieder luden die jungen Männer ihn ein. Ob er hinterher etwas mit ihnen trinken gehen wolle? Ob er gerne auf die Jagd gehen oder ausreiten würde? Stets lehnte er ab. Er konnte jedoch sehen, daß er von diesen dunkelhäutigen und wortkargen Süditalienern, die gewiß wußten, daß er nicht wie sie war, respektiert wurde. Respekt war jedoch nicht dasselbe wie Herzlichkeit.
Er mied die Gesellschaft junger Männer, richtiger Männer.
Selbst den normalen Studenten im Conservatorio, die sich ihm seit Lorenzos Tod unterordneten, ging er aus dem Weg.
Aber mit einem Mann die Klingen kreuzen? Er zwang sich da-zu und war bald gut genug, um jeden Gegner, den er bekam, annehmen zu können.
Guido nannte es Besessenheit.
Guido konnte nicht ahnen, wie einsam Tonio sich in der Fechthalle fühlte, wie erleichtert er war, wenn er sich wieder innerhalb der Mauern des Conservatorio befand.
Aber er mußte es tun. Er mußte es tun, bis er zum Umfallen erschöpft war.
In der Zwischenzeit drängte der Maestro di Cappella Tonio, ein kleines Zimmer im Hauptstockwerk in der Nähe von Guidos Gemächern zu beziehen. Lorenzos Tod beunruhigte ihn offensichtlich. Außerdem sah er es nicht gerne, daß Tonio soviel Zeit beim Fechten verbrachte. Die Schüler blickten zu Tonio auf, sahen in ihm eine Art Helden.
Tonio protestierte. Er wollte seinen Ausblick auf den Berg nicht verlieren und sein behagliches Dachzimmer nicht aufgeben.
Als ihm jedoch klar wurde, daß sämtliche Räume im ersten Stock durch Türen miteinander verbunden waren und daß sein Zimmer direkt neben Guidos Schlafzimmer lag, willigte er ein.
Er machte sich daran, das Zimmer nach seinen Vorstellungen zu möblieren.
Der Maestro war entsetzt, als er sah, welche Schätze durch die Eingangstür hereingetragen wurden: ein Kronleuchter aus Muranoglas, silberne Kerzenleuchter, lackierte Truhen, ein kassettiertes Bett mit grünen Samtvorhängen, Orientteppiche und schließlich ein herrliches Cembalo mit doppeltem Manual und einem langen dreieckigen Klangkörper. Es war mit galoppierenden Satyrn und Nymphen bemalt und mit einer sanften Lasur in Ocker,
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