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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Gold und Olivgrün versehen.
    Das Cembalo war eigentlich als Geschenk für Guido gedacht, es wäre jedoch indiskret gewesen, wenn Tonio es ihm direkt gegeben hätte.

    Nachts, wenn die Vorhänge an den Klosterfenstern zugezogen waren, und die Flure von schwachen und dissonanten Klängen widerhallten, wußte niemand, wer in welchem Bett schlief, wer in welchem Zimmer ein- und ausging. So blieb die Liebe zwischen Guido und Tonio weiterhin unentdeckt.

    Guido arbeitete in der Zwischenzeit intensiv an einem Pasticcio für Ostern, mit dem der Maestro di Cappella ihn aufgrund seines Erfolges an Weihnachten gerne betraut hatte. Dieses Pasticcio war eine vollständige Oper, bei der die meisten Akte jedoch Überarbeitungen der Werke irgendwelcher berühmter Komponisten darstellten. So sollten Kompositionen von Scarlatti zusammen mit einem Teil eines Librettos von Zeno im ersten Akt Verwendung finden, in den zweiten würde etwas Passendes von Vivaldi eingearbeitet sein, und so fort. Darüber hinaus hatte Guido jedoch die Gelegenheit, den letzten Akt selbst zu schreiben.
    Das Pasticcio würde Partien für Tonio und Paolo, dessen hoher lieblicher Sopran jedermann erstaunte, enthalten, außerdem eine Rolle für einen weiteren vielversprechenden Schüler namens Gaetano, den man Guido gerade erst als Anerken-nung für seine Weihnachtskantate geschickt hatte.
    An dem Tag, als der Maestro das Pasticcio akzeptierte, war Guido so glücklich, daß er tatsächlich alle Seiten der Partitur in die Luft warf.
    Tonio ging auf die Knie, um sie aufzusammeln, und nahm Guido dann das Versprechen ab, ihn und Paolo für ein paar Tage auf die Insel Capri, die in der Nähe lag, mitzunehmen.

    Als aber die Fastenzeit begann, wurde Tonio klar, was Guidos Sieg bedeutete. Tonio mußte jetzt auf der Bühne auftreten, und zwar nicht im Chor, sondern als Solist.
    Warum sollte das schlimmer sein als in der Kapelle? Warum sollte es schlimmer sein als die Prozessionen, die sich mitten durch die Menschenmassen hindurch zur Kirche bewegten?
    Dennoch jagte ihm diese Vorstellung einen Schauder über den Rücken. Er konnte sehen, wie sich das Publikum versammelte. Ein fast sinnlicher Schmerz überkam ihn, als er sich vorstellte, wie er ins Rampenlicht hinaustrat: Es war dieses altbekannte Gefühl von Nacktheit, von Verwundbarkeit, von...
    was? Das Gefühl, anderen zu gehören? Etwas zu sein, das dazu da ist, andere zu erfreuen, statt jemand, der selbst erfreut werden soll?
    Dennoch brauchte er es so dringend. Er brauchte die Schminke, den Flitter und die Aufregung. Und er erinnerte sich daran, wie er, als Domenico gesungen hatte, gedacht hatte: Eines Tages werde ich es tun, und ich werde noch besser sein.

    Als er schließlich Guidos Partitur öffnete, entdeckte er jedoch, daß er eine Frau spielen sollte. Er war wie betäubt.
    Zu diesem Zeitpunkt war er gerade allein in dem leeren kleinen Theater. Er hatte die Erlaubnis eingeholt, dort üben zu dürfen, da er hören wollte, wie seine Stimme diesen Raum erfüllte. Ein wenig Sonnenlicht sickerte in die Halle, die leeren Logen gähnten hohl und dunkel, die Bühne selbst war kahl, nicht einmal Vorhänge waren da, so daß die Ausstattung und die Requisiten sichtbar waren.
    Aber als er jetzt die Partitur vor sich anstarrte, fühlte er sich hoffnungslos verraten.
    Er spürte, wie ihm die Stimme im Hals vertrocknete.
    Er wußte, daß er die Partie singen sollte. Er sollte sie akzeptieren, wie sie war. Das war die Lektion, die der Berg ihn gelehrt hatte, denn innerhalb der sich entfaltenden Blütenblätter dieses neuen Schreckens lag das Samenkorn einer noch grö-
    ßeren Stärke. Er wünschte, er könnte wieder auf den Berg hinaufsteigen. Er wünschte, er würde begreifen, warum ihm das bei diesem ersten Mal so geholfen und ihn so verändert hatte.
    Doch er war schon, ohne nachzudenken, aufgestanden und hatte das Cembalo geschlossen.
    Nachdem er in Guidos Schlafzimmer eine Feder gefunden hatte, schrieb er eine Nachricht auf das Deckblatt der Partitur:
    »Ich kann keine Frauenrollen spielen, weder jetzt noch später.
    Wenn du die Partitur nicht für mich umschreibst, dann werde ich überhaupt nicht singen.«

    Normalerweise hätte es, als Guido hereinkam, Streit gegeben, aber Tonio schwieg ganz einfach. Er kannte all die Argumente: Überall wurden die Frauenrollen von Kastraten gesungen.
    Glaubte er denn, nur mit Männerpartien Erfolg haben zu können? Begriff er denn gar nicht, was er da aufgab? Glaubte er, er könne

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