Falsetto
war. Als jedoch wieder ein Diener mit dem unvermeidlichen kühlen Weißwein auf ihn zukam, nahm er abermals ein Glas, faßte dann den Diener beim Arm und fragte: »Die Kapelle, wo befindet sich die? Steht sie den Gästen offen?«
Das nächste, was ihm bewußt wurde, war, daß er dem Mann die breite Haupttreppe des Hauses hinauffolgte, und dann einen langen Gang entlang bis zu einer Flügeltür. Prickelnde Neugier hatte ihn gepackt. Er sah zu, wie der Diener mit seiner Kerze die Kerzen in den Leuchtern anzündete, dann stand Tonio allein in der matt erleuchteten Kapelle.
Sie war wunderschön, üppig ausgestattet und voller wunderbarer Details. Überall glänzte Gold, wie es die Neapolitaner so liebten, hob Bögen und kannelierte Säulen hervor, umrahmte die Decke und die Fenster mit schimmernden Arabesken. Die lebensechten Statuen waren in echten Satin und Samt gekleidet, das Altartuch war mit Juwelen reich verziert.
Still ging er den Gang zwischen den Bänken entlang. Still kniete er sich auf das Samtkissen am Altargitter hin, legte die Handflächen aneinander, so als wolle er beten.
Im matten Licht sah er die Wandgemälde über sich pulsieren.
Es schien ihm unmöglich, daß sie diese riesigen und herrlichen Gestalten geschaffen haben sollte: die Jungfrau Maria, die in den Himmel fuhr, Engel mit gebogenen Schwingen, grauhaarige Heilige.
Stark und kräftig waren sie, diese Gestalten, schienen lebendig werden zu wollen. Er spürte, wie eine Woge der Liebe zu ihr in ihm aufwallte, als er die Figuren ansah und sich dabei vorstellte, in ihrer Nähe zu sein, vertieft in irgendein leises und leidenschaftliches Gespräch, bei dem er endlich, endlich ihre Stimme hören konnte. Ach, wenn er nur eines Abends im Ballsaal, wenn sie sich gerade mit ihrem Tanzpartner unterhielt, nahe genug an ihr vorbeigehen und ihre Stimme hören könnte.
Über sich sah er die Jungfrau Maria, deren schwarzes Haar in Wellen über ihre Schulter fiel. Ihr Gesicht war ein makelloses Oval, die Lider hatte sie ein wenig gesenkt. Hatte sie das wirklich gemalt? Plötzlich erschien das Ganze ihm zu erlesen, um überhaupt von irgend jemandem gemalt worden zu sein. Er schloß die Augen.
Er faßte sich mit der rechten Hand an die Stirn. Ein Strom be-
ängstigender Emotionen drohte ihn zu übermannen. Ihm war elend zumute, und er hatte das Gefühl, Guido irgendeine Er-klärung dafür geben zu müssen, warum er hierhergekommen war. »Ich liebe nur dich«, flüsterte er.
Ihm war vom Wein ganz schwindelig und übel. Unbeholfen erhob er sich vom Altar und ging auf den Ausgang zu.
Hätte er nicht in einem kleinen Salon im oberen Stockwerk ein Sofa gefunden, dann hätte er sich vielleicht sogar übergeben.
So aber legte er sich hin und schloß die Augen. Da hörte er seine Mutter ganz deutlich sagen: »Ich hätte davonlaufen und zur Oper gehen sollen«, dann war er eingeschlafen.
Als er aufwachte, war alles ganz still. Sicher war das Fest vorbei. Er stand rasch auf und ging zum Treppenabsatz. Guido war gewiß wütend auf ihn. Vielleicht war er sogar ohne ihn nach Hause gefahren.
In den riesigen Räumen unten befanden sich nur noch wenige Gäste. Diener mit Silbertabletts gingen leise umher, sammelten Servietten und Gläser ein. Die Luft roch nach Tabak, ein einsamer Cembalospieler klimperte eine lebhafte kleine Melodie vor sich hin.
Nur drei der Violinisten waren noch da. Sie plauderten miteinander. Als Tonio Francesco bei ihnen stehen sah, eilte er die Treppe hinunter.
»Hast du Guido gesehen?« fragte er. »Ist er schon nach Hause gefahren?«
Francesco war offensichtlich sehr müde, da er an diesem Abend zwei Engagements gehabt hatte, und schien zuerst gar nicht zu verstehen, was Tonio meinte.
»Er wird wütend auf mich sein, Francesco. Ich bin eingeschlafen. Wahrscheinlich sucht er jetzt nach mir«, erklärte Tonio.
Da lächelte Francesco. »Er wird wohl kaum böse auf dich sein«, flüsterte er in einer merkwürdig vertraulichen Art. Er legte seine Violine vorsichtig in den Kasten und erhob sich, nachdem er den Deckel geschlossen hatte, zum Gehen. Als er jedoch den verständnislosen Ausdruck auf Tonios Gesicht sah, lächelte er wieder und warf einen bedeutungsvollen Blick zur Treppe und zum oberen Stockwerk hinauf.
Tonio beugte sich nach vorn, so als bemühe er sich, das zu hören, was Francesco gar nicht ausgesprochen hatte. Francesco rollte noch einmal mit den Augen. »Er ist bei der Contessa«, flüsterte er schließlich. »Warte
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