Falsetto
warm, daß sie ihm wie eine Umarmung schien.
In der Nähe öffnete gerade eine kleine Taverne. Eine Handvoll Tische stand auf dem Kopfsteinpflaster. Das Ganze wurde von zwei alten, knorrigen Feigenbäumen beschattet. Tonio ging hin und bestellte sich eine Flasche Lacrima Christi, den neapolitanischen Weißwein, den er so gern mochte.
Die Feigenblätter warfen riesige handförmige Schatten auf die Steine. Die warme Luft, die sich hier zwischen den engen Mauern gestaut hatte, schien dennoch stets in sanfter Bewegung zu sein.
Im Nu war er betrunken. Er brauchte dazu nicht mehr als einen halben Becher. Ein unglaubliches Glücksgefühl breitete sich in ihm aus, als er sich auf dem groben kleinen Stuhl zu-rücklehnte und dem nicht abreißenden Menschenstrom auf den Straßen zusah. Neapel war ihm noch nie so wunderschön vorgekommen. Trotz all der Dinge, die er nicht mochte - die erschreckende Armut überall und die große Faulheit der Adeligen -, fühlte er sich als Teil dieser Stadt. Er hatte angefangen, sie zu verstehen, auf seine eigene Weise.
Vielleicht lag es auch daran, daß Jahrestage bei ihm stets ein festliches Gefühl hervorriefen. In Venedig gab es davon so viele, und sie wurden immer gefeiert. Sie waren nicht einfach eine Art, das Leben abzumessen, sie waren eine Art zu leben.
Nach den Besorgungsgängen des Vormittags war diese Glückseligkeit eine stille Erleichterung.
Nun also jährte sich der Tag seiner Ankunft hier zum dritten Mal.
Es war schon fast dunkel, als er zum Conservatorio zurückkehrte. Er war zuerst zum Albergo Inghilterra am Meer gegangen und hatte dort zwei Zimmer gemietet. Er hatte vor, Guido heute abend dorthin einzuladen. Zuvor aber wollte er noch eine nahe gelegene Kirche aufsuchen, um Caffarelli dort singen zu hören. Caffarelli, der jetzt seit über einem Jahr in Neapel war, trat zwar oft im San Carlo auf, Tonio lag aber etwas daran, ihn an diesem besonderen Tag zu hören.
Da er den Übungsraum leer vorfand, ging er in Guidos Zimmer.
Guido hatte sich bereits für den Abend umgezogen und trug jetzt einen eleganten Rock aus Samt, den Tonio ihm gekauft hatte. Gerade steckte er sich einen juwelenbesetzten Ring an die linke Hand. Sein Haar war ordentlich gekämmt, die dichten, schokoladenbraunen Locken schimmerten, und mit seinen neuen weißen Seidenhandschuhen machte er insgesamt einen ungewöhnlich prunktvollen Eindruck. Er trug Schnallenschuhe, die mit Rheinkieseln verziert waren.
»Ach, ich habe schon den ganzen Nachmittag nach dir gefragt«, sagte er. »Ich möchte, daß du heute möglichst früh zum Haus der Contessa kommst«, sagte er. »Nimm ein leichtes Abendessen zu dir, trink aber keinen Wein mehr. Dies ist ein besonderer Abend, tu, was ich dir sage, und mach keine Ausflüchte. Ich weiß, daß du nicht dorthin willst, aber du mußt.«
»Wann habe ich denn nicht dorthin gewollt?« fragte Tonio. Er fand, daß Guido immer besonders gut aussah, wenn er ausging.
»Das letzte halbe dutzendmal, als du eingeladen warst«, sagte Guido, »aber heute mußt du mitkommen.«
»Und weshalb?« fragte Tonio kühl. Welche Ironie! Er konnte es kaum glauben. Er mußte daran denken, was Domenico vor Jahren geplant hatte, es war dasselbe albergo, es waren Zimmer mit Seeblick. Er lächelte. Was sollte er sagen?
»Die Contessa hat eine schwere Zeit hinter sich, und dies ist seit ihrer Rückkehr der erste Ball, den sie gibt. Du weißt, daß ihr Cousin, der alte Sizilianer, der viele Jahre in England gelebt hat, gestorben ist. Nun, sie mußte ihn nach Palermo überführen, damit er dort beerdigt werden konnte. Ich nehme nicht an, daß du jemals ein Begräbnis in Palermo gesehen hast.«
»Ich habe in Palermo noch überhaupt nichts gesehen«, sagte Tonio.
Guido blätterte durch die gebundenen Partituren auf seinem Schreibtisch. »Nun, für die Zeremonie in der Kirche hat man den Verstorbenen in einen Sessel gesetzt. Hinterher wurde er dann in den Kapuzinerkatakomben, in denen sich auch die ganze übrige Familie befindet, ausgestellt. Die Katakomben sind eine unterirdische Totenstadt mit Hunderten von Leich-namen, alle schicklich angezogen, einige aufrecht stehend, andere liegend. Die Mönche kümmern sich um das Ganze.«
Tonio zuckte zusammen. Er hatte schon davon gehört. Etwas Derartiges war in Norditalien undenkbar.
»Ja, nun, die Contessa hat genug sizilianisches Blut in ihren Adern, daß ihr das nicht viel ausmachte. Aber die Witwe des alten Mannes, das junge Mädchen aus England, die
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