Falsetto
köstliche Nachlässigkeit an sich, diese sanfte Gleichgültigkeit, die er jedesmal, wenn sich ihrer beide Blicke begegnet waren, bei ihr bemerkt hatte.
Sie lächelte wieder. Tapfer lächelte sie ihn an. Er mußte etwas zu ihr sagen, unbedingt. Er würde irgendeine angemessene und schickliche Bemerkung machen, aber ihm fiel nichts ein.
Da streckte sie zu seinem höchsten Entsetzen die Hand aus.
»Wollen Sie nicht hereinkommen, Signore Treschi?« sagte sie mit demselben süßen Sopran. »Wollen Sie nicht hereinkommen und sich eine Weile zu mir setzen?«
»O nein, Signorina.« Diesmal verbeugte er sich tiefer und wich dabei zurück. »Ich möchte Sie nicht stören, Signorina, und ich... wir... ich würde gerne ... ich meine, wir sind einander nie wirklich vorgestellt worden, ich ...«
»Aber jedermann kennt Sie, Signore Treschi«, sagte sie und bedeutete ihm mit einem kleinen Kopfnicken, er möge auf dem Stuhl neben ihr Platz nehmen. Wieder flackerte jene Fröhlichkeit in ihren Augen auf, erlosch dann aber abrupt, als er sich nicht rührte.
Sie starrte ihn jetzt schweigend an, Tonio starrte ebenso stumm zurück.
Er stand immer noch ganz genauso da, als er hinter sich hör-te, wie ihn jemand mehrmals beim Namen rief. Es war der Kammerdiener der Contessa, der gekommen war, um ihm zu sagen, daß man ihn oben im Haus erwartete.
Tonio stürzte regelrecht davon, um dieser Aufforderung nachzukommen. Das Haus war bereits erfüllt von Lachen und leiser Musik, als er den Korridor im oberen Stockwerk entlangeilte, wo man ihn dann in die Gemächer der Contessa führte.
Aber dann sah er Guido, das Spitzenhemd über der nackten Brust geöffnet, müßig dastehen. Die Contessa selbst schlüpfte gerade in einen gerüschten Morgenmantel. Hinter ihr befand sich ein großes und üppig drapiertes Bett.
Er war wütend. Fast wäre er wieder gegangen. Aber er konnte dieser Frau nicht vorwerfen, sie hätte versucht, ihn zu verletzen. Sie wußte ja nichts von seiner Beziehung zu Guido, genausowenig wie alle anderen. Als sie Tonio jetzt erblickte, erhellte sich ihre Miene.
»Ah, du wunderschönes Kind«, sagte sie. »Komm her und hör mir zu.« Sie winkte ihn mit beiden Händen zu sich heran.
Tonio warf Guido ein eisiges Lächeln zu und näherte sich ihr mit einer kurzen Verbeugung. Ihr stämmiger kleiner Körper schien ganz warm zu sein, so als hätte sie gerade eben noch in den Kissen oder in den Armen eines Mannes gelegen.
»Wie geht es deiner Stimme heute abend?« fragte sie ihn.
»Sing mir etwas vor!«
Er war empört. Er funkelte Guido zornig an. Er war in die Falle gegangen.
»Pange Linqua« stimmte sie an und fuhr dann in wunderschön schmelzendem Ton mit der gesamten lateinischen Phrase fort.
»Sing, Tonio«, sagte Guido sanft. »Deine Stimme, wie ist sie heute abend? Gut, schlecht, oder was?« Sein Haar war ganz zerzaust. In seinem offenen Hemd wirkte er beinahe sinnlich.
Da ist nun also dein wunderschönes Kind, dachte Tonio, dein Cherub. Und das ist der Lohn dafür, daß ich einen Bauern liebe.
Er zuckte mit den Achseln und hob in voller Lautstärke zu singen an. Es war der Anfang von P ange Linqua.
Die Contessa wich zurück und stieß einen leisen Schrei aus.
Tonio war nicht überrascht, daß seine Stimme in diesem mit Möbeln vollgestellten Wohnraum ungeheuer und unnatürlich klang.
»Los«, sagte sie und scheuchte dabei die Kammerzofen weg, die, Kerzen in der Hand, neben dem Bett standen. Nachdem sie zwischen den Kissen gesucht hatte, zog sie eine gebundene Partitur hervor. »Kannst du das singen, mein wunderschö-
nes Kind?« fragte sie. »Heute abend?« Sie beantwortete ihre eigene Frage gleich selbst mit einem Nicken. »Hier, zusammen mit mir?«
Tonio starrte einen Moment das Deckblatt an. Er war völlig verwirrt. Ihre Stimme, natürlich, er hatte von ihrer Stimme ge-hört, und das nicht nur einmal. Sie war eine brillante Amateu-rin, aber sie sang nicht mehr. Und jetzt sollte er hier, in diesem Haus, vor Hunderten von Leuten auftreten, wo Guido doch wußte, daß er das nicht wollte! Er drehte sich zu Guido um.
Ungeduldig deutete Guido auf die Noten.
»Tonio, würdest du jetzt freundlicherweise aufwachen und einen Blick auf das werfen, was du da in der Hand hältst«, sagte er. »Du hast eine Stunde Zeit, um dich vorzubereiten...«
»Das mache ich nicht!« sagte Tonio wütend. »Contessa, ich kann das nicht tun. Es ist unmöglich, ich...«
»Liebstes Kind, du mußt es aber tun«, gurrte sie. »Tu es
Weitere Kostenlose Bücher